27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Tucholskys Doktorarbeit

von Harald Heydrich

„… mit dem Ausdruck der vorzüglichen Hochachtung

Tucholsky“

 

Der Name scheint nicht recht zum untertänigen Gruß zu. passen. Dennoch ist das Zitat authentisch. Es findet sich im Briefwechsel Kurt Tucholskys mit der „Hohen Rechts- und Staatswissenschaft­lichen Fakultät der Großherzoglich und Herzoglich Sächsischen Ge­samtuniversität Jena“ aus dem Jahre 1913. Anlaß dafür war der Wunsch des frischgebackenen Erfolgsautors von „Rheinsberg“ (1912), seinen in Berlin und Genf betriebenen juristischen Studien einen Abschluß zu geben und sich mit dem Doktortitel das Entréebil­lett zu einer bürgerlichen Laufbahn zu verschaffen. Es ist nicht über­liefert, ob der damals zweiundzwanzigjährige Großkaufmannssohn sich dem Druck der kräftig regierenden Mutter beugte – oder ob er sich angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit eines freischaffen­den Feuilletonisten einen Brotberuf sichern wollte. Immerhin schreibt er in einem Brief von 1913 über seinen Freund und Förderer, den ersten Herausgeber der Schaubühne und späteren Weltbühne: „… Jacobsohn zahlt, aber herzlich und wenig …“

Das einzige ausführlichere zeitgenössische Zeugnis über den jungen Tucholsky stammt von dem feinsinnigen Beobachter Franz Kafka: „Tucholsky und Szafranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von ,nich‘ gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von einundzwanzig Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme, die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an älteren Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. … Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholsky verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, daß es drin steckt.“

In der Mixtur widersprüchlicher Charakterzüge findet als wichtiger i Würzstoff bereits Tucholskys Ironie Erwähnung, die er aber – nach Kafka – vor allem gegen das eigene literarische Werk richtet. Ferner rühmt der Prager an dem Berliner dessen selbstbewußtes Auftreten und die Klarheit über die berufliche Zukunft, was sicherlich mit Kafkas glückloser Suche nach Ganzheit zu tun hat. Jener Tucholsky, der hier scheinbar unbeirrt seiner Karriere als Verteidiger entgegen­segelt, verfaßt aber bereits 1913, parallel zu seiner Dissertation, eine Schrift, die deutlich bezeugt, was er in Wirklichkeit für verteidigenswert hält. In einer Rezension stranguliert er nämlich den Versuch eines vertrottelten Naumburger Oberlandesgerichtsrates, ein Haupt­werk der deutschen Klassik zwischen übergewichtigen Strafgesetz­büchern zu zerquetschen. Titel des attackierten Machwerkes: „Das Recht in Goethes Faust. Juristische Streifzüge durch das Land der Dichtung“.

Tucholsky meint, daß der Angriff wider den Juristen die beste Verteidigung der Literatur sei, und kämpft angesichts großer Un­verschämtheit und ebenso großer Unbeholfenheit des Gegners nicht mit dem Florett ironischer Analyse, sondern mit dem schweren Säbel des gnadenlosen Verrisses: „Die mißlungene Arbeit eines trockenen Schleichers könnte uns in keinem anderen Falle die Zunft verekeln. Hier tut sie es. Hier offenbart sich die kurzstirnige und begrenzte Arbeitsweise dieses schwerfälligen Apparats, der zwischen Tritt und Schritt mit staubigen Wälzern operiert, um zu beweisen, daß er über­haupt geht …“ und so weiter – und noch heftiger. Fazit der qualvollen Lektüre: „Die ganze Unzulänglichkeit, die jämmerliche Kleinheit dieser Pseudowissenschaft könnte nicht klarer zum Ausdruck kom­men, wenn sie sich nicht schon im Leben täglich blamierte.“

Diese entschiedene Aversion gegenüber der wilhelminischen Ju­risprudenz hindert ihn jedoch nicht daran, sich für blanke dreihun­dertfünfzig Reichsmark um die Zulassung zur Promotion in der ver­haßten Disziplin an der Universität Jena zu bewerben. Im beigefügten polizeilichen Führungszeugnis aus Berlin wird ihm „auf Grund amt­licher Ermittlungen bescheinigt, daß während der Zeit vom 1. April 1906 bis jetzt nichts Nachteiliges über ihn bekanntgeworden ist“. Den Stellvertreter des gestrengen Polizeipräsidenten hatte glücklicher­weise nur die strafrechtlich reine Weste des Bürgers Tucholsky zu interessieren, so daß die Kunde von den publizistischen Vergehen an der Sache der Rechtswissenschaften, zuweilen hinter Pseudonymen verborgen, nicht bis nach Jena drang.

Dergestalt gedeckt, konnte er, erfüllt von „vorzüglicher Hochach­tung“, den Rechtsgelehrten weismachen, daß ihn das Thema „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“ „wegen der wich­tigen Streitfragen fesselte“. Der Schaum, den er offenbar in der ersten Fassung seiner Dissertation schlug, wurde vom Gutachter Prof. Dr. Lehmann mit akademischem Zorn weggeblasen. Ein Urteil, das Tucholsky eigentlich zur Ehre gereicht; denn er war zunächst außer­stande, den juristischen Jargon überzeugend zu gebrauchen. So heißt es im abweisenden Gutachten: „Der Verfasser stellt die Lehre von der Vormerkung kurz in nicht immer einfacher und einwandfreier Spra­che dar. Die Referate über die Literaturmeinungen entbehren zum Teil der Klarheit. … Vor allem aber fehlt der Arbeit die förderliche und eigene Note.“

Ein hübscher Gegensatz: der Sprachspieler Tucholsky als Tol­patsch im Paragraphendickicht. Im übrigen scheint der fleißige Pu­blizist kein übermäßig begeisterter Studiosus gewesen zu sein, denn 1914 schreibt er, auf seinen Studiensommer von 1911 zurückschau­end: „Ich, zum Beispiel, kenne Genf. Das Semester, das ich dort verlebte, wird immer schöner, je weiter es fortrückt.“ Keinen Monat nach dieser Äußerung in der Schaubühne sucht er sein Promotions­verfahren von neuem anzuschieben, und sein Gesuch vom 9. Juni 1914 und seine Arbeit sind darauf ausgerichtet, für schönes Wetter beim Gutachter zu sorgen. So betont er bereits im ersten Satz, daß er „eine nach den Angaben des Herrn Prof. Dr. Lehmann umgearbeitete Dis­sertation“ einreiche.

Da man erwartet, daß externe Doktoranden mindestens ein Se­mester in Jena studiert haben, sieht er sich genötigt, sein Fernbleiben damit zu begründen, daß er eine Anstellung bei der Haude & Spenerschen Verlagsbuchhandlung Max Paschke habe, die sich vor allem mit der Herausgabe juristischer und nationalökonomischer Verlags-werker befasse. Um das Bild des unabkömmlichen und strebsamen Jünglings abzurunden, setzt er offenherzig hinzu: „Ich würde mir dadurch [durch Studienaufenthalt in Jena – H. H.] meine Beziehungen und das Interesse meines Chefs zerstören. Ich bitte daher ergebenst von meiner Immatrikulation absehen zu wollen.“

Daß er zu dieser Zeit schon weit mehr als hundert Beiträge allein für die Schaubühne verfaßt hat, verschweigt er wohlweislich ebenso wie seine Versuche, gemeinsam mit dem Freund Szafranski, dem Illustrator des Rheinsberg-Bändchens, eine Zeitschrift für Kunst und Politik unter dem stimmungsvollen Titel Orion/Ein Jahrkreis in Briefen aus der Taufe zu heben. Anderenorts schreibt er über dieses Vorhaben: „Dem Orion gehts gut, weil er noch ein Embryo ist.“ Damit behält er recht, weil für das Blättchen leichter ein Redaktionskollegium als ein abonnierfreudiges Lesepublikum aufgetrieben werden kann. Doch davon sickert nichts nach Jena durch. Alles, was den ehrwürdigen akademischen Apparat zu einem verärgerten Knirschen anläßlich des Namens Tucholsky verleiten könnte, wird peinlich vermieden.

So hält der mit Abstand langweiligste Text des Autors diesmal dem gemilderten Blick des alten und neuen Gutachters stand – wohl auch deshalb, weil Tucholsky bereits auf der ersten Seite in durchaus ehr­fürchtiger Weise aus dem Hauptwerk des Professors Lehmann zitiert. Nach dieser ersten Hürde, für deren Überwindung er immerhin ein „cum laude“ erhält, baut man die zweite vor ihm auf: mündliche Doktorprüfung am Donnerstag, dem 19. November 1914, nachmittags fünf Uhr. Hier wird, scheint’s, eine kleine akademische Hätz ver­anstaltet, an der vier professorale Jäger und als Freiwild der cand. jur. Kurt Tucholsky beteiligt sind. Man jagt ihn durch römisches und bürgerliches Recht zu Strafrecht, Strafprozeß und Kirchenrecht, treibt ihn durch Handelsrecht und deutsches Privatrecht und läßt ihn erst dann laufen, als er sich aus den Fallstricken von Staatsrecht, deutschem Reichsgerichts- und Verwaltungsrecht herausgewunden hat. Auch dafür bescheinigt man ihm ein „cum laude“, so daß der juristische Repetitor, der dem armen Jüngling zuvor die Keile trockener Paragraphen ins Hirn getrieben hatte, wohl ein guter Arbeiter gewesen sein muß.

Wie wir wissen, unterhielten die gekrönten und ungekrönten Herr­scher der Welt inzwischen schon den ersten großen Kriegsbrand unseres Jahrhunderts und ließen Staats-, Völker- und Menschenrecht in Flammen aufgehen. Dr. Tucholsky findet sich bald als Armierungs­soldat, dessen wichtigste Waffe der Spaten ist, auf den Schlachtfel­dern des Weltkrieges wieder. Übrigens stoßen zu dieser Waffengat­tung später, allerdings jeweils anderenorts, auch die Doktoren Arnold Zweig und Karl Liebknecht. Das kaiserliche Deutschland wußte aus Kopfarbeitern nichts, anderes zu machen. So vergingen dem Schrift­steller dank entschieden stärkerer Eindrücke rasch die Gedanken an sein akademisches Intermezzo.

Nur die Namen Theobald Tiger und Peter Panter, einst aus trocke­nen Gerichtsparadigmen extrahiert und zu Pseudonymen umgemünzt, behielt er bei. Unvergeßlich blieb ihm auch der Einblick, den er in die Unrechtsmechanismen des imperialistischen Staates gewonnen hatte. Der Kampf gegen die Justitia der Weimarer Republik, die auf dem rechten Auge nahezu blind war, dafür aber links mehr strafte, als sie sehen konnte, durchzieht sein gesamtes Schaffen. Und dabei reichte sein Blick erstaunlich weit – zum Beispiel, als er 1921 die „Deutsche Richtergeneration 1940“ sprechen ließ: Wir sitzen in zwanzig Jahren / mit zerhacktem Angesicht / in Würde und Talaren / über euch zu Gericht. / Dann werden wirs euch zeigen / in Sprechstunden und Büros … / ihr habt euch zu ducken, zu schwei­gen / Auf die Mensur! Gebunden! Fertig! Los!

Er hat die Fricks, Freislers und Filbingers nicht nur kommen sehen, sondern auch eindringlich vor ihnen gewarnt.

 

Weltbühne, 51/52 vom 16. Dezember 1980. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.