27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Film ab

von Clemens Fischer

Virtuoses musikalisches Talent am Klavier wird als Heranwachsende durch schlimmes Schicksal (Missbrauch. Was noch?) zur Soziopathin, die als junge Frau schließlich jegliche Fähigkeit zur Selbstkontrolle verloren hat und zu übergangslosen Gewaltausbrüchen von außerordentlicher Brutalität neigt. Zwangsläufig ergibt sich komplette emotionale Isolation.

Dieser Frau namens Jenny von Loeben nimmt sich lediglich eine sehr viel ältere an, Klavierlehrerin in einem Gefängnis. Deren ausgesprochene Herbheit wiederum kaschiert Brüche in der eigenen Persönlichkeit.

Als Drehbuchautor und Regisseur Chris Kraus sein dramaturgisches Grundkonstrukt das erste Mal umsetzte, hieß das Ergebnis „Vier Minuten“, kam 2006 in die Kinos und dauerte erschreckende und faszinierende 111 Minuten. Für Hannah Herzsprung als Jenny, die wegen eines Mordes einsitzt, den sie wahrscheinlich nicht begangen hat, war es zu Recht der Durchbruch als Schauspielerin. Ihr herber Gegenpart war seinerzeit mit Monica Bleibtreu kongenial besetzt.

„Vier Minuten“ lief in 42 Ländern, auf 300 Festivals, räumte 64 Preise ab und hatte zwei Millionen Zuschauer.

Jetzt heißt die Fortsetzung „15 Jahre“ und benennt damit die Zeitspanne, nach der Jenny das Gefängnis wieder verlassen durfte. Nun putzt sie in einer Firma, deren Chefin wieder eine herbe Alte ist – Adele Neuhauser; abermals eine optimale Besetzung. Im Übrigen hat im Knast offenbar keinerlei Therapie stattgefunden, jedenfalls keine merkbare, dafür blieb jedoch die Virtuosität am Flügel vollständig erhalten, so dass die Neuinszenierung von Gewaltausbrüchen und konzertanten Intermezzi sofort von Neuem beginnen kann. Das mag nach bloßem Abklatsch klingen, ist es aber nicht. Für sehr junge Erwachsene, die aufgrund ihrer Lebensjahre „Vier Minuten“ nicht kennen, ist alles neu, und bei älteren ist die Erstbegegnung mit Jenny gegebenenfalls immerhin 17 Jahre her. Da springt die nahezu identische Wiederholung des Grundkonstrukts niemandem sofort ins Auge. Es sei denn, er hat sich „Vier Minuten“ unmittelbar zuvor nochmals angesehen. Wie der Besprecher.

Der Film ist packend inszeniert und aus dem insgesamt sehr stimmigen Ensemble ragen Albrecht Schuch, Christian Friedel und Hassan Akkouch mit weiteren tragenden Rollen heraus.

Den Hauptpreis als bester Film beim Kinofest Lünen gab es bereits und für Hannah Herzsprung den Bayerischen Filmpreis 2023 als beste Darstellerin ebenfalls. Hat der Streifen also erneut das Zeug zu einer so furiosen Bilanz wie „Vier Minuten“?

Vielleicht.

Wäre da nicht ein substantieller Malus: Der Drehbuchautor hat die Chance vertan, den Film mit dem Selbstmord Jennys abrupt, aber schlüssig enden zu lassen, und der Regisseur hat diesen Fehler leider nicht korrigiert. So werden, wie man es vor allem aus US-amerikanischen Produktionen kennt, am Ende noch 20 bis 30 Minuten drangehängt, in denen die Geschichte weitere, häufig reichlich unwahrscheinliche Volten schlägt, nochmals kräftig auf die Tränendrüse gedrückt wird und selbst gute Filme Gefahr laufen, in die Rubrik Rührstück abzudrehen – „Forrest Gump“ lässt grüßen. Im vorliegenden Fall überlebt Jenny nicht nur ihren Selbstmordversuch und einen weiteren schweren Schicksalsschlag, sondern reüssiert offenbar auch noch als Solokünstlerin. Das längt den Streifen überflüssigerweise auf 144 Minuten.

Doch halt – ohne den Appendix bliebe das berührende Chanson „Dein Haus“, das Hannah Herzsprung als Jenny ganz am Ende zu Gehör bringt, ungesungen. Und das wäre überaus schade … (Diese Behauptung kann bei Bedarf bei Spotify überprüft werden.)

„15 Jahre“, Regie und Drehbuch: Chris Kraus; derzeit in den Kinos.

*

Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass dieser Film tatsächlich Wim Wenders‘ schönster seit den Siebzigern ist, wie Daniel Kothenschulte in seiner Kritik in der Berliner Zeitung behauptete. Doch beurteilen kann der Besprecher das nicht; er hat einfach zu wenige Wenders-Streifen gesehen. Dass allerdings der japanische Star Koji Yakusho als Hauptdarsteller des Tokioter Toilettenputzers Hirayama beim diesjährigen Filmfestival in Cannes den Preis als bester Darsteller in Empfang nehmen konnte, ist allein schon durch die vorletzte Einstellung des Filmes mehr als gerechtfertigt. Da blickt der Zuschauer – tonal überaus passend unterlegt mit Nina Simones „Feel Good“ – minutenlang in das leinwandfüllende Gesicht Hirayamas, und was dessen Mimik dabei an wechselnden, vor allem aber gegensätzlichen Gedanken und Emotionen verrät, das ist im Wortsinne Großes Kino. Ansonsten ist das noch Aufregendste in diesem Streifen eine Live-Performance des Uralt-Folksongs „The House of the Rising Sun“. Der wurde bekanntlich in der Version von The Animals mit Sänger Eric Burdon schon 1964 zum internationalen Hit. Bei Wenders hingegen wird japanisch gesungen. Ansonsten passiert im täglichen Leben Hirayamas, gemessen an heutigen kinematografischen Standards, so gut wie – nichts. Und das während 123 Minuten.

Langweilig ist davon keine einzige.

„Perfect Days“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Wim Wenders; derzeit in den Kinos.