27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Eine epische Neubewertung des Mittelalters

von Manfred Orlick

Der britische Historiker und Journalist Dan Jones hat sich in zahlreichen Publikationen, Podcasts und Fernsehdokumentationen schon mehrfach der Geschichte der Frühen Neuzeit und des Mittelalters gewidmet. In seinem neuen Buch „Mächte und Throne“ nimmt er nun eine epische Neubewertung der mittelalterlichen Welt vor. Mit dem Niedergang der einst mächtigen Stadt Rom begann eine fast tausend Jahre andauernde Transformation, in der sich langsam die großen europäischen Nationalitäten und grundlegende Rechts- und Regierungssysteme herausbildeten. Die katholische Kirche wurde zu einer mächtigen Institution und zum Regulator der öffentlichen Moral des Abendlandes.

Es ist eine sehr umfangreiche Geschichte, die über Kontinente und durch Jahrhunderte springt und verschiedene Themenfelder behandelt – von Krieg und Recht bis zu Kunst und Literatur. Um diese Fülle von Ereignissen eines so langen Zeitraums zu fassen, hat Jones seine Darstellung in vier große chronologische Abschnitte unterteilt.

In Teil eins beschäftigt er sich neben dem zerfallenden Römischen Reich und den Mächten, die in der Nachfolge Roms entstanden, auch mit dem oströmischen Byzanz und den ersten islamischen Reichen – ein Zeitspanne vom frühen fünften bis zur Mitte des achten Jahrhunderts.

Der zweite Teil beginnt mit dem Aufstieg der Franken, die im Westen Europas ein christliches Herrschaftsgebiet auf den Überresten des Römischen Reiches aufbauten, und verfolgt dann den Aufstieg weiterer Dynastien um die erste Jahrtausendwende. Außerdem wird die Rolle der Mönche und Ritter in der mittelalterlichen Gesellschaft des Abendlandes beleuchtet.

Teil drei betrachtet die Zeit des „Hochmittelalters“ vom Ansturm der Mongolen im zwölften Jahrhundert, der eine Verschiebung der geopolitischen Kräfteverhältnisse mit sich brachte, bis hin zu den Kaufleuten, Gelehrten, Architekten und Baumeistern, die damals das Bild der mittelalterlichen Städte veränderten.

Der abschließende vierte Abschnitt spannt einen Bogen von den verheerenden Pandemien zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, als der Schwarze Tod fast die Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte, bis zum Zeitalter der Renaissance. Mit ihren epochalen Entdeckungen und Erfindungen änderte sich nicht nur die Vorstellung von der Welt, auch die Kirche war einem Wandel unterworfen. Das war der Beginn der Neuzeit.

Jones’ Darstellung konzentriert sich hauptsächlich auf Europa und betrachtet die Geschichte anderer Teile der Welt aus diesem Blickwinkel. Der Autor entschuldigt seine etwas einseitige Geschichtsschreibung mit seiner Herkunft und seinem Studium.

Der Autor stellt einige weit verbreitete Klisches über das Mittelalter in Frage. Bisher wurden dies Jahrhunderte häufig als finstere Epoche voll dumpfer Religiosität, apokalyptischer Seuchen und mörderischer Glaubenskriege angesehen. Für Jones ist das Mittelalter jedoch keine Periode der Stagnation oder des Niedergangs, sondern ein Zeitalter intensiver politischer und kultureller Gärung. Überzeugend argumentiert er, dass das Jahrtausend vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert eine Zeit großer Innovationen und Veränderungen war. Jones wirft zugleich ein neues Licht auf ikonische Orte wie Rom, Paris, Venedig oder Konstantinopel und zeigt das Wirken einiger der berühmtesten Persönlichkeiten des Mittelalters – von Karl dem Großen über Wilhelm den Eroberer oder Jeanne d’Arc bis zu Albrecht Dürer, Christoph Kolumbus oder Leonardo da Vinci. Gleichzeitig scheut sich Jones nicht, die dunklen Aspekte der mittelalterlichen Gesellschaft zu beschreiben.

Mit seiner erzählerischen Darstellung gelingt es dem Autor, fast tausend Jahre mittelalterlicher Geschichte auf siebenhundert Seiten informativ, lebendig und unterhaltsam zu präsentieren und mit gelegentlichen Ausblicken in unsere Gegenwart zu verknüpfen. Dieser populärwissenschaftliche Ansatz zielt dabei auf ein breiteres Publikum. Ergänzt wird die Neuerscheinung durch zwei mehrseitige Teile mit zahlreichen historischen Abbildungen.

 

Dan Jones: Mächte und Throne – Eine neue Geschichte des Mittelalters (aus dem Englischen von Heike Schlatterer), Verlag C.H. Beck, München 2023, 793 Seiten, 38,00 Euro.