27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Ein Stück Beatles-Archäologie

von Manfred Orlick

Die altehrwürdige Londoner National Portrait Gallery hat in ihrer über 150-jährigen Geschichte sicher schon einige spektakuläre Expositionen präsentiert, doch die beispiellose Ausstellung „1964 – Augen des Sturms“ (28. Juni – 1. Oktober 2023) ist ein wahrer Besuchermagnet gewesen. Sie zeigte außergewöhnliche Fotografien von Paul McCartney, die zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die Aufnahmen hat der Musiker und Songwriter mit eigener Kamera zwischen Dezember 1963 und Februar 1964 aufgenommen – in einer Zeit, in der die Beatles von einer britischen Sensation ins Orbit eines globalen Phänomens katapultiert wurden.

Bereits einige Tage vor Ausstellungseröffnung, fast zeitgleich mit McCartneys 81. Geburtstag, erschien der opulente Bildband „1964: Eyes of the Storm“ mit mehr als 275 Fotos, der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.Im Jahr 1963, als die Beatlemania Großbritannien erfasste, erwarb McCartney eine 35-mm-Pentax, vielleicht auch als Vergeltung dafür, dass er nun ständig mit den Objektiven von Zeitungs- und Zeitschriftenfotografen konfrontiert wurde. Klein genug, um die Kamera auf Tournee mitzunehmen, ermöglichte sie ihm, Momente abseits der Bühne, mit seinen Bandkollegen und deren Gefolge, festzuhalten.

Die Fotos entstanden innerhalb von drei Monaten in Liverpool, London, Paris, New York, Washington D.C. und Miami. Es begann Ende Dezember 1963 mit der triumphalen Heimkehr der Band nach einer mehrmonatigen UK-Tournee im Liverpooler Empire Theatre und im Londoner Finsbury Park Astoria. Dann, zu Beginn des neuen Jahres, kam es zu 18 ausverkauften Tagen und Nächten in der ehrwürdigen Olympia-Musikhalle in Paris, wo die Beatles an manchen Tagen zwei, manchmal sogar drei Konzerte hintereinander gaben.

Im Februar 1964 eroberten die Beatles dann die USA. Innerhalb weniger Tage traten sie in New York (unter anderem in der Ed Sullivan Show vor einem gewaltigen Publikum von 73 Millionen Zuschauern), im schneebedeckten Washington D.C. und im sonnenverwöhnten Miami auf. Ihr Song „I Want to Hold Your Hand“ stürmte an die Spitze der US-Charts, wo er sich sieben Wochen lang hielt. Damit hatte die britische „Invasion Amerikas“ begonnen. McCartney konnte sich damals von den begleitenden Fotografen Rat einholen, vor allem für markante Hell-Dunkel-Aufnahmen, beeinflusst vom französischen New-Wave-Kino. Neben facettenreichen Porträts seiner Bandkollegen John, George und Ringo entstanden so auch Fotos vom Manager Brian Epstein, den Crewmitgliedern, seiner Freundin Jane Asher oder von Sylvie Vartan und Johnny Hallyday, den Co-Stars bei ihren Olympia-Auftritten. Einige New York-Fotos zeigen die Wolkenkratzer von Manhattan oder berittene Polizeibeamte, die die Fans vor dem Hotel der Beatles zurückdrängen. Während der USA-Reise erwarb McCartney auch seine ersten Farbfilme. Obwohl die Farbaufnahmen von Miami Beach eher Urlaubsfotos gleichen, ist dieser Stilwechsel auch ein Symbol dafür, wie sich die Welt für die „Fab Four“ fast über Nacht verändert hatte. Die damals entstandenen Fotos – ein unglaublicher Schatz von fast tausend Aufnahmen – verschwanden in McCartneys Privatarchiv und wurden erst 2020 wiederentdeckt. 275 davon haben nun Eingang in den Bildband gefunden. McCartney hat die Fotografien selbst ausgewählt und mit persönlichen Reflexionen und Bildlegenden versehen. Dabei wurde er von Erinnerungen und Emotionen überschwemmt: „Es war ein wunderbares Gefühl, direkt in die Vergangenheit zurückversetzt zu werden. Plötzlich ruhten Millionen von Blicken auf uns, was ein Bild ergab, das ich niemals vergessen werde.“ Ergänzt werden McCartneys Fotografien und Texte durch eine Einführung der Harvard-Historikerin und New Yorker-Essayistin Jill Lepore und durch ein Vorwort von Nicholas Cullinan, Direktor der National Portrait Gallery. Paul McCartneys private, bisher unveröffentlichte Fotografien aus jenen wenigen intensiven und legendären Monaten dokumentieren einen entscheidenden Moment in der Geschichte der Pop-Musik.

 

Paul McCartney: 1964 – Augen des Sturms (aus dem Englischen von Conny Lösch),
Verlag C.H. Beck, München 2023 (2. Auflage), 335 Seiten, 49,90 Euro.