27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Aus die Maus

von Jutta Grieser

Am ersten Dezembertag 2023 hatte das Berliner Marx-Engels-Zentrum (MEZ) in die Spielhagenstraße in Charlottenburg geladen. Trotz Wintereinbruch und „Schicksalsspiel“ der Fußballnationalmannschaft der Frauen waren der Einladung etliche Interessierte gefolgt. Aus dem Kiez. Früher, sagte Andreas Wehr, seien auch noch welche aus Ostberlin gekommen, aber nun nicht mehr. Der Jurist ist Gründer und Kopf der Einrichtung, einst war er Berliner Juso-Chef, nun ist er bei den Linken. In den neunziger Jahren leitete er in der Senatskanzlei das Büro des Europabeauftragten, später war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Brüssel. Jetzt ist er vornehmlich Buchautor und besorgt, dass die Besucherzahl unter den Erwartungen bleibt. Wo doch eine Bundestagsabgeordnete käme, um über ihr Buch zu sprechen. Nicht irgendeine, sondern eine von jenen zehn, die aus der Fraktion ausgetreten sind, um eine neue Partei zu gründen.

Die Neugier unter der MEZ-Gefolgschaft ist bislang übersichtlich.

Dann treten, jeweils mit einem Schwall Kälte, nach und nach weitere Personen durch die Flurtür und entrichten bei Marianna Schauzu ihren Obolus von drei Euro. Wehr atmet sichtlich erleichtert auf. Und dann kommt auch Żaklin Nastić – klein, zierlich, zerbrechlich – mit kräftiger Entourage. Es heißt entschuldigend, sie müsse sich vor einem Stalker schützen, der ihr vorzugsweise bei solchen Veranstaltungen auf die Pelle rücke. Ich greife vor: Er kam diesmal nicht. Vielleicht war’s ihm zu frostig.

Im Buch, das sie dann vorstellt, schreibt sie anschaulich über ihre Herkunft und über ihre politischen Überzeugungen, die kausal zusammenhängen. Geboren wurde sie als Żaklin Jadwiga Sarah Grinholc. Sie hat polnische, deutsche, kaschubische und jüdische Wurzeln sowie die deutsche und die polnische Staatsbürgerschaft. ‚Der Familienname Grünholz ist zweifellos jüdischer Herkunft, doch darüber wurde in der Familie nicht gesprochen. Fragte ich nach, bekam ich stets zur Antwort: ‚Das wissen wir nicht.’ Da schwang unterschwellig vermutlich noch die Furcht vor dem tätlichen Antisemitismus mit, den frühere Familiengenerationen erfahren hatten. Man war Pole – nicht Jude. Man wollte die Herkunft aus Furcht nicht preisgeben. „Ein Verhalten, von dem ich auch hierzulande hörte“, trägt sie holprig vor. Nastić wirkt angefasst bei diesem Thema.

Mit zehn kam sie mit ihrer Mutter im Januar 1990 ins noch zweigeteilte Deutschland. „Wir landeten erst auf einem Flüchtlingsschiff in Hamburg und dann in einer Hochhaussiedlung. Zwischen den Wohnblöcken wurde geschlagen, geschossen und gedealt. Und vermutlich gab es Gewalt auch hinter manch ramponierter Wohnungstür. Die Kriminalitätsrate war hoch und der Schufa-Score niedrig. Wer beim Versandhändler bestellte, konnte nicht sicher sein, dass die Ware auch geliefert wurde. Die Postleitzahl war verräterisch. Wer hier lebte, leben musste, weil er in anderen Stadtteilen keine Wohnung bekam, existierte in jeder Hinsicht am Rande der bürgerlichen Gesellschaft.“ Wir waren Wirtschaftsflüchtlinge, keine politischen, sagt Nastić. Die Eltern lebten getrennt. Mutter war Putzfrau in Polen, der Vater arbeitete seit den achtziger Jahren in der Bundesrepublik auf dem Bau.

Der Jugoslawien-Krieg hat sie politisiert. Viele ihrer Schulfreundinnen kamen aus Familien, deren Wurzeln auf dem Balkan lagen. Nach dem NATO-Krieg mit deutscher Beteiligung war sie zum zweiten Mal in Serbien. „Ich sah die zerstörten Häuser, die gesprengten Brücken und ausgebrannten Wohnungen: Kriegsbilder, die ich als Achtzehnjährige bislang nur aus Geschichtsbüchern und Filmen kannte.“ Ein Schlüsselerlebnis. Das sie nicht minder prägte wie ihre unmittelbare soziale Umgebung. Mit 28 nahm sie in Hamburg an einer Versammlung der Linken teil, ihrer ersten. Trat der Partei bei, weil die sich den Kampf gegen Krieg, Armut und Ausbeutung auf die Fahne geschrieben hatte. War Abgeordnete im Kommunalparlament von Hamburg-Eimsbüttel und schließlich in der Hamburger Bürgerschaft, 2017 wurde die zweifache Mutter und studierte Slawistin in den Bundestag gewählt.

Da begann der politische Ärger.

Bereits mit ihrer Jungfernrede eckte sie an. Auch bei den eigenen Genossen. Die SPD hatte den Entwurf eines Einwanderungsgesetzes vorgelegt, in welchem gefordert wurde, „die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes zu steuern und zu gestalten“. Nastić hatte wütend reagiert: „Wer Verstand und ein Herz für arme Menschen hat, fordert eine gerechte Weltwirtschaftsordnung statt die Interessen des deutschen Arbeitsmarkes zu bedienen.“ Sie habe die Zwischenrufe und das Getrampel nur unterschwellig wahrgenommen. „Beatrix von Storch, eine geborene Herzogin von Oldenburg und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD, ließ mich auf Twitter wissen, was sie von meiner Rede hielt. Sie fürchtete wohl, dass ich ihre Unmutsbekundung im Saal nicht wahrgenommen hatte.“

Die Kritik aus den eigenen Reihen verstummte nie. Nastić, die weder ihre soziale Herkunft vergessen noch ihre pazifistische Grundüberzeugung aufgegeben hatte, erlebte mit Erstaunen, wie nicht wenige Häuptlinge ihrer Partei sich von dem vermeintlich moralisch konnotierten Ukraine-Unterstützungsgeschrei anstecken ließen. „Am 12.Mai 2022, acht Wochen nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands, machte ich im Deutschen Bundestag darauf aufmerksam, dass inzwischen deutsche Rüstungsgüter im Wert von mindestens 192 Millionen Euro an Kiew geliefert worden seien. Nicht nur, dass damit gegen die gesicherte Erkenntnis gehandelt wurde, dass mehr Waffen auch mehr Tod, Leid und Zerstörung bedeuteten. Sondern dass auf diese Weise eine gefährliche Ausweitung des Krieges riskiert werde. Deutschland war eigentlich schon dadurch Kriegspartei geworden, dass es ukrainische Soldaten auf deutschem Territorium an deutschen Waffen ausbildete. Allein dadurch, so hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages anklingen lassen, ‚würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen’.“

Vor einer Abstimmung über weitere Kriegskredite sei sie, so erzählt Nastić, von der Parteivorsitzenden gebeten worden, den Saal zu verlassen: Mit ihrer Haltung würde sie dem Ansehen der Partei schaden …

Als Nastić im Frühjahr 2023 ihr Buch schrieb, war vielleicht die Eskalation des Krieges in der Ukraine, nicht aber die Verschärfung der Auseinandersetzung um die Friedensfrage in Fraktion und Partei absehbar. Aber im Buch wird spürbar, warum es schließlich zum Bruch kam, kommen musste. Vor über hundert Jahren schieden sich an dieser zentralen Frage die Geister in der SPD. Die Mehrheitssozialisten beschlossen die Rettung des kapitalistischen Staates, was für die Spartakisten nicht in Frage kam. Das führte während des Krieges zur Trennung und schließlich zur Gründung der KPD.

Es sieht – trotz analoger Umstände – nicht so aus, als werde die neue Partei, deren Gründung für Januar 2024 angekündigt ist, an die vor 105 Jahren entstandene, konsequent antikapitalistische Partei anknüpfen. Im Gegenteil. Manche Äußerung der Galionsfigur nährt jedenfalls Zweifel, dass dies eine Partei werden könnte, bei der man mit Rosa Luxemburg ausrufen möchte: „Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner.“

Am Ende ihres Buches schreibt Żaklin Nastić jedenfalls zutreffend: „Wenn die Linke ernst genommen werden will, braucht sie mehr Souveränität und weniger Servilität. Beim Katzbuckeln macht sie sich kleiner, als sie ist. Souveränität aber gründet auf Selbstsicherheit. Wenn sie sich ihrer Sache allerdings nicht mehr sicher ist, sollte sie gehen, bevor die Wählerinnen und Wähler sie dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst. Wenn die Linkspartei ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nicht gerecht werden sollte, wird es heißen: Aus die Maus! Ich bin allerdings überzeugt, dass in dieser kapitalistischen Ausbeutergesellschaft mehr denn je eine konsequente linke politische Kraft mit Rückgrat und Kopf gebraucht wird, eine, die für Frieden, soziale Sicherheit und eine streitbare Demokratie kämpft.“

Diese Überzeugung teilte sie an jenem Abend im MEZ nicht nur mit den meisten Zuhörern, sondern gewiss auch mit den Lesern ihres sehr überzeugenden Buches. Ob aber der geplante Schritt von Erfolg gekrönt sein wird, steht natürlich nicht in diesem Buch. Das wissen vermutlich nicht einmal die Götter. Allenfalls die Geheimdienste. Und die werden es uns nicht verraten.

 

Żaklin Nastić: Aus die Maus. Der Blick von unten auf die da oben, Das Neue Berlin, Berlin 2023,

192 Seiten, 16,00 Euro.