26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Mit List hat man mich gefangen

Anonym

Wo soll ich mich hinwenden,
Bei der betrübten Zeit?
An allen Orten und Enden
Ist nichts als Krieg und Streit.
Rekruten fanget man,
So viel man haben kann;
Soldat muss alles werden.
Es sei Knecht oder Mann.

 

Mit List hat man mich g’fangen,

Als ich im Bette schlief;

Da kam der Hauptmann gegangen,

Ganz leise auf mich griff

„Ei Bruder, bist du da?

Von Herzen bin ich froh

Steh’ nur auf, Soldat mußt werden,

Das ist nun einmal so!“

 

So bin ich nun gefangen,
Mit Eisen angelegt;
Als wär’ ich durchgegangen,
So hat man mich belegt.
Ach Gott, verleih Geduld,
Ich bitt um deine Huld!
Mein Schicksal will ich tragen,
Vielleicht hab‘ ich’s verschuld’t.

 

Der König hat’s beschlossen

Zu streiten für sein Land;

Viel Krieger werden erschossen

Durch der Feindlichen Hand.

Das ist des Krieges Lauf:

Rekruten hebt man auf,

Viel tausend Krieger müssen

Ihr Leben geben drauf.

 

„Ach Vater, Schwester, Bruder,
Stellt euer Weinen ein!
Es kann nichts Anders helfen,
Soldat muss ich jetzt sein.
‘s regieret in der Welt
Die Falschheit und das Geld;
Der Reiche kann sich helfen,
Der Arme muss ins Feld!“

Von diesem Soldatenlied aus dem 18. Jahrhundert – seine Motivik läßt sich bis ins 16. Jahrhundert verfolgen – existieren kaum zählbare Fassungen. Wir zitieren nach Wolfgang Steinitz’ großer Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“, hier die Strophen 1 bis 4 und 8. In Strophe 4 haben wir den von Steinitz benutzten Begriff „Kinder“ durch das in einigen Varianten vorkommende „Krieger“ ersetzt. In den „offizielleren“ Liederbüchern wurde und wird es gerade wegen unserer letzten Strophe gerne unterschlagen.