Auch wer die früheren vier Romane Schlattners mit ihren autofiktionalen Geschichten nicht gelesen hat, wird dieses Buch nicht ohne Gewinn aus der Hand legen. Wieder – und nun wohl zum letzten Mal – lässt uns der nun 90-jährige Autor teilhaben an seinem Blick auf ein prall gefülltes Leben.
Weit zurück geht es zu den Anfängen, hinab in den Brunnen der Erkenntnis und zu den Schleusen menschlichen Entfaltens. Es ist gut, dass Schlattner seiner Kindheit und Jugend einen respektvollen Besuch abstattet. Noch einmal begibt er sich auf die Suche nach dem unsichtbaren Wurzelstock seiner Person und zugleich nach den Verästelungen seiner Zeit. Gravierende Umbrüche geben dem Buch den nötigen Drive, zumal sie durch den alten Weisen hindurchtönen und so ihre Atemnot verlieren.
Im besten Sinne betrachtend, ist die Sprache Schlattners. Aus den Tiefen des Lebensbrunnens taucht er gleichsam nach jeder kurz betrachteten Begegnung als Trächtiger an die Oberfläche. Das Woher gewinnt Konturen und wird zu lieb gewordener Vergangenheit. Es ist viel, was da durch das Sieb der Erinnerung geschüttet wird.
Doch kann man den Einzelheiten trauen? Ist das alles nicht zu lange her; überwuchert vom Leben in Verantwortung? Bei Schlattner liest sich das so: „Früheste Erinnerungen, die herbeigaukeln und geschuldet sind dem vergrübelten Spürsinn eines Buben. Mir. Der ich noch nicht lesen und schreiben konnte. […] Vermutlich war es so, wie ich es niederschreibe. Doch denkbar: einiges anders. Aus den zerfransten Bildern der Vergangenheit schälen sich Begebenheiten, die Profil und Kontur begehren als das Erzählbare. Das alles, so oder anders, war überdacht von einer Zeit, die den Jahren viel ‚Unordnung und frühes Leid‘ bescherte, damals am Brunnentor der Kindheit […]“ Man möchte glauben, dass die Sicht aufs eigene Leben beim Predigen, Schlattner ist Pastor, an Klarheit gewann. Es ist ein sehnsuchtsvolles Herabsteigen in den Brunnen, voller Bereitschaft zu erinnern und zu schauen. Was haben sie an mir getan; die Spielkameraden, die hübschen Mädchen, die Eltern und die Großfamilie? Was haben die vielen politischen Wirren und Willkürakte mit mir gemacht? Gab und gibt es einen eigenen Weg für mich? Und kann ich das alles erzählen, auf dass es erzählbar werde?
Der Meister lässt sich gern über die Schultern sehen. In Gegensätzen blättert er sein Leben auf. Da ist der unzuverlässige Bruder, da sind die verwirrend liebreizenden Nachbarsmädchen, da ist der Unterschied von arm und reich, von deutsch, ungarisch und rumänisch, von Tanten und Onkeln einer längst vergangenen Zeit. Hart im Raume treffen sich die Sachen.
Schlattner schreibt sich zur Ruhe. Doch es bleiben Denkaufgaben: „Uns Siebenbürger Sachsen gibt es nicht mehr, aber wir sind noch immer da.“ Oder: „Heute ist Deutsch eine Sprache der Grabsteine geworden.“
Es ist eine bildreiche und im „Ausland“ etwas in die Jahre gekommene Sprache, die der Verfasser oft genug liebevoll betrachtet, hatte er doch schon als Kind den Eindruck, dass die Deutschen gar kein richtiges Deutsch sprächen. Und so begegnen dem Leser Verben und Bezeichnungen, die sich nur in der 900-jährigen Kultur der Deutschen in Transsilvanien erhalten haben. Regionale sprachliche Eigenheiten des Autors lassen aufhorchen und sind zugleich ein Hinweis auf eine deutsche Kultur, die aus vielerlei Gründen zu sterben begann und in massenhaftem Exodus von Siebenbürger-Sachsen und Banat-Schwaben in die Bundesrepublik Deutschland ihren sichtbaren Ausdruck findet. Allerdings kann nicht verschwiegen werden, dass in diesem Zusammenhang eine bessere Lektorierung des Buches angebracht gewesen wäre.
„Alte Dinge haben mich erzogen.“, schreibt Schlattner und meint die vielen Prägungen durch Familie, Freunde, Politik, staatliche Krisen und trotzigem Dennoch. Das Buch ist eine Suche nach einer Identität, die aus mehr besteht als Sprachen und Staatszugehörigkeiten, aus mehr als überstandenem Unrecht und engstirnigen Ideologien.
Macht hier einer literarisch ein Licht aus, das fast ein Jahrtausend lang die Kultur im Zentrum Europas beschienen hat? Man mag den Eindruck haben. Doch hat Schlattner Quellbäche an den Brunnentoren erzählbar gemacht und ihnen damit ein Leben zurückgegeben, das mit geheimnisvoller Kraft den Wurzeln der Siebenbürger, wo auch immer sie heute leben, Identität verleiht.
Eginald Schlattner: Brunnentore. Roman. Pop-Verlag, Ludwigsburg 2023, 320 Seiten, 25,00 Euro.
Dr. Matthias Kleiminger ist pensionierter Landessuperintendent und lebt in Parkentin.
Schlagwörter: deutsche Kultur, Eginald Schlattner, Identität, Matthias Kleiminger, Siebenbürgen