Jede Tragödie wiederholt sich noch einmal als Farce, hat Marx festgestellt, und wir erlebten dies kürzlich im – noch! – unerschlossenen Investoren-Niemandsland zwischen südlichem Berliner Stadtrand und einer sogenannten Speckgürtelsiedlung namens Kleinmachnow. Arnold Schönberg hat hier ein paar Jahre gewohnt, Kurt Weill suchte hier sein Vermögen anzulegen und seine Ehe mit Lotte Lenya zu retten, indem er ein Haus kaufte, einige Schriftsteller und DEFA-Größen zogen sich vor und nach 1961 in die stille Mauer-Nische mit dem alten Baumbestand zurück. Gegenüber dem noblen Zehlendorf mit seinen großbürgerlichen Villen ging es hier schon immer ländlicher zu; der einstige Gutsbezirk bekam in den zwanziger Jahren ein Straßennetz mit pittoresken Namen und Typenhäuser mit großzügig geschnittenen Gärten. Es blieb Platz für viel Grün: ganze Waldstücke dazwischen oder kleine Lauben auf fünftausend-Quadratmeter-Parzellen waren gewissermaßen ein Element von Freiheit inmitten der hermetischen Absperrung nach dem Mauerbau.
Dies änderte sich schlagartig im Frühling des Jahres neunzig: Durch die frisch geschlagenen Breschen im Beton schwärmen sie aus, die neugierigen Westberliner und die beutegierigen Makler und all die Erben von Häusern und Grundstücken, elektrisiert von der Aussicht auf frisches Immobilienkapital. Die darauf folgende, sowohl lustvoll zelebrierte wie schmerzhafte deutschdeutsche Inbesitznahme- (oder je nach Perspektive) Vertreibungs- Prozedur brachte Kleinmachnow erstmals als Objekt in den überregionalen Medienzirkus; auch die hilflose Wut oder verzweifelte Fassungslosigkeit von Leuten, die hier Jahrzehnte lang zuhause gewesen waren und nun zu weichen hatten, ließ sich ja noch bestens als spektakuläre Titelstory verkaufen.
„Da bin ich noch: Mein Land geht in den Westen / Krieg den Hütten, Friede den Palästen“, schrieb Volker Braun; hier war es umgekehrt, der Westen kam zurück und mit ihm die Logik der Kapitalverwertung. Es gibt inzwischen auch ein „Goldstaubviertel“ mit vierhundert-Quadratmeter-Villen, für welche man sogar eiszeitliche Sumpflöcher bebaubar machte, indem man ein dutzend Meter lange Betonsäulen hineintrieb. Alle diese Kämpfe nun sind längst gekämpft, letzte Lauben dämmern ihrem Abriss entgegen, eine erste Nachwende-Hausbesitzergeneration geht demnächst schon in die Pflegeheime und jede Menge junger Familien hat geerbt oder Kredit aufgenommen, zieht nach, baut aus, bevölkert die Kitas, Schulen und Supermärkte.
Das deutsche Zauberwort aber heißt: Verwaltung – offensichtlich abzuleiten von althochdeutsch ‚waltan‘ – herrschen. Ver-herrschen, zer-herrschen? Verwalten heißt Ordnung, ein fein verästeltes System von mehr oder weniger durchschaubaren oder verständlichen Regeln, Verordnungen, Bestimmungen, von ganz oben nach ganz unten in die Gesellschaft implantiert, gewissermaßen vom ersten Artikel des Grundgesetzes bis zur Hundekotsatzung im Gemeindewald. Ohne Zweifel braucht es Regeln und Ordnung, aber immer schon gab es Zweifel daran, und die Frage bleibt offen: Wer kontrolliert die Kontrolleure, wie erlange ich Rechenschaft von den Unkündbaren in ihren Ämtern, sind die eigentlich für mich oder doch eher ich für sie da, kurz: Wedelt der Hund mit dem Schwanz oder umgekehrt?
Der Gutsbezirk Kleinmachnow mit einem Adelssitz und drei Dutzend Häusern ließ sich noch von zwei Mietsstuben aus mit einem Sekretär und einem Schreiber verwalten. Später residierten Gemeinderat und Ämter in dürftigen Baracken; mit dem neuen Jahrtausend aber nun in einem wuchtigen Rathaus, Krone märkischer Investorenarchitektur. Hier wie überall das Spiel zwischen Legislative und Exekutive – eine Gemeindevertretung voller Partei-und Partikularinteressen, Befindlichkeiten und Eitelkeiten. Manch verhinderter Volkstribun trat schon auf und wieder ab, es geht im Ganzen halbwegs öffentlich und demokratisch zu.
Jedoch: „Der Segen kommt von oben“ – im Fall der Corona-Pandemie musste bis aufs letzte i-Pünktchen exekutiert werden, was die Regierungen dem (einseitigen) Diktum einer Riege von Virologen-Göttern glaubten. Zwei Jahre lang waren alle Rathäuser geschlossen, jeglicher Verkehr mit dem (maskierten) Publikum unterbrochen – wunderbarerweise ging das Leben aber dennoch weiter, wenn auch beschädigt und geknebelt. Der Sinn einer Verwaltung ist, nach allerbestem Wissen und Gewissen zu verwalten – daher ist irgendein Irrtum, Versagen, Fehlbarkeit eigentlich ausgeschlossen. Denn stellte so etwas nicht die Existenz der Verwaltung selbst in Frage? Konnte es dabei geschehen, dass ein sterbender Mensch im Pflegeheim nicht einmal von seinen Kindern besucht werden durfte? Oder dass zwei Liebenden auf einer Bank im Stadtpark von der Polizei befohlen wurde, von dieser Bank zu verschwinden? Es ist wirklich geschehen.
Von der Tragöde zur Farce: Ein junger Mann, vielleicht ein wenig beschwipst begegnet im nächtlichen Kleinmachnow einer der allgegenwärtigen Wildschweinhorden: Kluge, lernfähige, fruchtbare Wühler und Fresser, mit ihren feinen Riechorganen unwiderstehlich angelockt vom Duft der proteinreichen Würmer und Larven an den Straßenrändern; auch Mäusenester und Aas verschmähen sie bekanntlich nicht. Teenager macht ein wackliges Sekundenschnipsel-Video, unscharf und zweifelhaft wie jene legendären Filmsequenzen vom Yeti oder Bigfoot, und das schickt er – angeblich – seinem Papa, der in Bayern im Urlaub ist. Der schickt es – angeblich – ausgerechnet an die bayrische Polizei, die gibt es – angeblich – weiter an die Kollegen in Brandenburg, und damit ist ein schier unaufhaltsamer Verwaltungsakt in Gang gebracht.
Irgendjemand glaubte, da eine Löwin zu sehen, und der vage Glaube ward durch den amtlichen Blick (irgendeines amtlichen Deppen, der sicher für immer anonym bleiben wird) zur amtlichen Gewissheit. Man könnte die nun drohende Lawine noch aufgehalten haben: Frag drei oder fünf oder sieben erfahrene Jäger und sieh, ob ein klares Mehrheitsvotum herauskommt, erwäge alle Wahrscheinlichkeiten … Nichts davon, statt dessen die volle amtliche Breitseite mit Hubschraubern, Polizeihundertschaften und gar einem gepanzerten Spezialfahrzeug, begeistert begleitet von einer ausgehungerten Medienmeute. Wie sehr wünschten sie sich doch bitte bitte irgend etwas Spektakuläres, ein Zipfelchen Sensation in der sommerlichen Sauregurkenöde! Ein einziger Löwenkot-Trümpel wenigstens, an dem zu schnuppern, ein winziges Tröpfchen Blut, das abzufilmen, ein entsetzter Einwohner, der zu befragen wäre!
Derweil nimmt die gut geölte Desasterverwaltungsmaschinerie Fahrt auf, und man glaubte, ein übles Echo zu hören: „Bleiben sie in ihren Häusern!“ Auf nächtlichen Hubschrauberlärm folgen Kolonnen von Polizeiwannen, die spektakulär auf gänzlich unspektakulären Waldwegen patrouillieren, man sieht (geht’s noch?) Maschinengewehre glänzen und die Katastrophen-Warn-App zeigt rot schraffiertes Stadt- und Waldland, wo der Tod in Gestalt einer entlaufenen Großmiezekatze lauern soll. Nur vermisst niemand so ein Tier, aber in dem Maße, wie allerletzte Reste von Wahrscheinlichkeit schwinden, erhöht sich die mediale Schlagzahl.
Der Wunsch wird zur Kolportage wird zur „erneuten Sichtung“ – jemand will ein gerissenes Wildschwein gesehen, jemand will Löwengebrüll gehört haben – lustvoll wird es breit getreten. Aber das waren dann nur Hundehaufen, wie sie die lieben Anwohner und Randberliner massenhaft von ihren Lieblingen hier abdrücken lassen. Der Löwe war ein falscher Hase, war eine Ente. Und wir? Wir haben wenigstens Tränen gelacht.
Der Autor wohnt in Kleinmachnow.
Schlagwörter: Kleinmachnow, Loewe, Rainer Ehrt