26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Walerian und Luise

von Ernst Reuß

Historisches gibt es in Berlin-Schöneweide zu sehen. Dort ist das Dokumentationszentrum zur NS-Zwangsarbeit in einem vollständig erhaltenen Zwangsarbeiterlager untergebracht. Laut Dokumentationszentrum wurden 26 Millionen Männer, Frauen und Kinder während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Rund 8,4 Millionen Menschen wurden als „zivile“ Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten Europas in das Deutsche Reich verschleppt. Die deutsche Wirtschaft wäre ohne das Millionenheer deportierter „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangener zusammengebrochen. Die Sterblichkeit unter ihnen war aufgrund der menschenunwürdigen Behandlung äußerst hoch. Gründe waren die hohe Arbeitsbelastung, die schlechte Versorgung, grassierende Krankheiten und Bombenangriffe. So durften Zwangsarbeiter normalerweise nicht in Luftschutzkeller. Rassistische Gesetze mit willkürlichen Todesstrafen taten ein übriges. Einige dieser Todesurteile sind in der Ausstellung dokumentiert. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene wurden als „Volksschädling“ oder wegen „verbotenen Umgangs“ sehr schnell exekutiert. Insbesondere waren davon die als rassisch minderwertig verachteten „slawischen Untermenschen“ betroffen.

Allein im Berliner Stadtgebiet befanden sich während des Zweiten Weltkriegs etwa 3000 Lager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Einzig dieses an der Britzer Straße in Niederschöneweide für mehr als 2000 Zwangsarbeiter geplante Lager inmitten eines Wohngebiets blieb erhalten. Zwei Baracken dienten in den letzten Kriegsmonaten 1945 als Unterkunft für weibliche KZ-Häftlinge, die in einer Batteriefabrik arbeiten mussten.

Nach 1945 verwendete die Sowjetische Militäradministration zunächst einige Baracken als Papierlager, später zog dort das Impfstoff-Institut der DDR ein. Die übrigen Baracken werden bis heute genutzt. Nach 1989 wurde das Impfstoff-Institut abgewickelt, ab 1995 stand dieser Teil des historischen Lagergeländes über zehn Jahre leer.

Neben der Dauerausstellung werden dort immer wieder Sonderausstellungen gezeigt. In einer der Baracken läuft daher bis zum 28. Januar 2024 die interessante Ausstellung „Luise. Archäologie eines Unrechts“. Es handelt sich um eine verdrängte Familiengeschichte aus der NS-Zeit, die die Familie des Fotografen Stefan Weger betrifft. Während seiner Schulzeit in Bremen kreuzte im Unterricht die Geschichte von Walerian Wróbel seinen Weg. Weger schreibt: „Was sich bei mir jedoch am meisten eingebrannt hat, war nicht der Inhalt des Unterrichts, sondern der Satz meiner Mutter: ,;Du weißt, dass das Luise war?‘ Damals hatte dieser Satz für mich keine Bedeutung, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt verstand, was sie meinte. Jahre, eigentlich sogar Jahrzehnte später, taucht dieser Satz in meinem Kopf wieder auf, ein altes Echo aus einer tiefen Höhle. Und dieses Mal verstehe ich.“

Kurz nach seinem 16. Geburtstag im April 1941 wird der junge geistig leicht zurückgebliebene Pole Walerian Wróbel zur Zwangsarbeit nach Bremen auf den Bauernhof der Vorfahren Wegers verschleppt. Bereits nach wenigen Tagen flüchtete er, wurde jedoch gefasst und zur Arbeitsstelle zurückgebracht, drei Tage später legt Walerian Feuer, ohne großen Schaden anzurichten, weil er hofft, dann nach Hause geschickt zu werden. Beim Löschen half er. Die Bäuerin Luise, lässt ihn von der Gestapo abholen und lieferte damals die entscheidende Zeugenaussage. Walerian wird zur oft tödlichen Zwangsarbeit ins KZ Neuengamme gebracht und am 25. August 1942 hingerichtet. Luise war die Urgroßmutter des in Berlin lebenden Portrait- und Dokumentarfotografen Stefan Weger.

Im vorausgehenden Prozess wurde die noch nicht gültige Polenstrafrechtsverordnung angewandt. Das Jugendgerichtsgesetz, das die Verhängung der Todesstrafe gegenüber Jugendlichen verbot, dagegen nicht.

Der damalige Staatssekretär im Justizministerium Roland Freisler lehnte es ab, den Gnadengesuch, das selbst der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde unterstützte, nachzukommen. Auch das sollte Freislers Karriere sehr förderlich sein, wie man weiß.

Am Morgen des 25. August 1942 wurde das Urteil in Hamburg mit der Guillotine vollstreckt. Walerian Wróbel ist ein Symbol für die NS-Unrechtsjustiz. Erst seit dem Jahr 1984 erinnert eine Gedenktafel vor dem Strafkammersaal des Landgerichts an ihn und die insgesamt 54 vom Sondergericht zum Tode Verurteilten.

Mitte der 1980er Jahre ließ der 2023 verstorbene Rechtsanwalt Heinrich Hannover den Prozess neu aufrollen. Auf Antrag der Schwester Wróbels und der Staatsanwaltschaft Bremen hob das Landgericht Bremen das damalige Urteil auf.

Die Geschichte Walerian Wróbels wurde 1990 verfilmt.

Vom Autor erschien 2022 im Metropol Verlag der Band „Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten“.