So lautete der Titel eines 2018 ausgestrahlten „Tatorts“ mit dem Ermittlerduo Batic und Leitmayr aus München, der nur mäßige Kritiken erhielt. „Wir kriegen euch alle“ heißt zudem das 1991 erschienene Album der ostdeutschen Punkband Feeling B. Das Album besingt die bewegte Zeit der Wiedervereinigung. „Wir kriegen euch alle“ ist aber auch der Schlachtruf von Neonazi-Schlägern, mit dem sie ihre Opfer verfolgen und einschüchtern.
Im aktuellen Kontext kann der Ausspruch eine neue Bedeutung erhalten. Zu denken ist an die Strafverfolgung von NS-Verbrechen, genauer gesagt die Mordtaten der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern. Jüngst starb Josef S. im Alter von 102 Jahren. Josef S. wurde als Mitglied der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Sachsenhausen vom Landgericht Neuruppin wegen Beihilfe zum Mord zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das war 2022. Gegen das Urteil hatte der Verteidiger von Josef. S. Revision eingelegt. Doch bevor der Bundesgerichtshof über die Revision entscheiden konnte, starb der hochbetagte Angeklagte. Dieser Verfahrensverlauf ist symptomatisch für die späte Verfolgung von NS-Tätern.
Warum solche Verfahren teilweise erst jetzt eingeleitet und Anklagen erst jetzt erhoben werden, hat nicht zuletzt mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu tun. Bis zur Kehrtwende 2016 im Fall von Oskar Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz, verfolgte der Bundesgerichtshof im Hinblick auf die Bewertung strafbarer Beihilfehandlungen in Konzentrationslagern einen restriktiven Kurs. Besonders deutlich wurde das im Zusammenhang mit den Frankfurter Ausschwitzprozessen, die in den Jahren 1963 bis 1969 stattfanden. In einer Entscheidung – betreffend den Lagerarzt Dr. Schatz – urteilte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs 1969 laut Neuer Juristischer Wochenschrift (NJW 1969, S. 2056 f.):
„Die bloße Zugehörigkeit des freigesprochenen Angeklagten Dr. Sch. zum Lagerpersonal und seine Kenntnis von dem Vernichtungswerk des Lagers reichen nach allem nicht aus, ihm die während seines Lageraufenthalts begangenen Tötungen zuzurechnen. […] In der Ausübung seiner eigentlichen Tätigkeit im Lager, der zahnärztlichen Behandlung des SS-Personals, kann objektiv und subjektiv keine Beihilfe zu den Tötungshandlungen gesehen werden.“
Diese Haltung änderte sich mit der Entscheidung des 3. Strafsenats im Fall von Oskar Gröning. Der Bundesgerichtshof vollzog 2016 endlich eine Kehrtwende. Anstatt die Beteiligung an konkreten Mordtaten nachzuweisen, kann nun die allgemeine Diensttätigkeit im Konzentrationslager zur Begründung einer strafbaren Beihilfehandlung ausreichen. In der Entscheidung im Fall von Oskar Gröning (NJW 2017, 498 ff.) führten die Karlsruher Richter dazu unter anderem aus:
„Indes hat das LG [Landgericht – d. Red.] im Ausgangspunkt zutreffend darauf abgehoben, dass der Angekl. durch seine allgemeine Dienstausübung in Auschwitz bereits den Führungspersonen in Staat und SS Hilfe leistete, die im Frühjahr 1944 die ‚Ungarn-Aktion‘ anordneten und in der Folge in leitender Funktion umsetzten bzw. umsetzen ließen.“
Es hat über 45 Jahre gedauert, bis es zu dieser Wende in der höchstrichterlichen Rechtsprechung kam. Das ist angesichts der für die Strafverfolgung verlorenen Zeit bedauerlich. Dennoch sandte diese Entscheidung 2016 das späte, aber klare Signal, dass auf justizieller Seite ein besonderes Aufarbeitungs- und Strafverfolgungsinteresse besteht. Für Opfer und Angehörige dürfte das ermutigend sein. Josef S. konnte sich dem weiteren Verfahren indes durch Tod entziehen. Für alle anderen NS-Täter, die bislang unbehelligt in der Bundesrepublik leben konnten, bedeutet die Kehrtwende vor allem eins: Wir kriegen euch alle!
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