Hundert Jahre alt würde er am 10. Mai werden, richtig bekannt geworden ist er erst in seiner zweiten Lebenshälfte durch eine Reihe autobiographischer Bücher und als erotischer Provokateur: Nicolaus Sombart. Dabei war der Sohn des großen Ökonomen und Soziologen Werner Sombart viel mehr: Mitbegründer der Gruppe 47 und Mitglied des PEN, Kultursoziologe und Leiter der Kulturabteilung des Europarates in Straßburg, in ganz Europa zuhause und doch ein typisches West-Berliner Gewächs.
Geboren wurde Sombart in der Villenkolonie Grunewald. Der Vater war bereits eine europäische Berühmtheit, die drei Jahrzehnte jüngere Mutter, eine rumänische Prinzessin, führte in der Villa einen literarischen Salon, in dem sich die künstlerische, wissenschaftliche und diplomatische Hautevolee der Weimarer Republik traf. „Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter“, hat Sombart einmal gesagt; die Atmosphäre in seinem Elternhaus hat er später in „Jugend in Berlin 1933-1943“ nachgezeichnet. In Carl Schmitt – ihm hat er 1991 eine eigene, kritische Monographie gewidmet: „Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt, ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos“ – hatte der Schüler zeitweise einen Mentor, in der Bündischen Jugend eine Art Heimat; trotzdem blieb auch in der Nazizeit das kosmopolitische und stark jüdisch beeinflusste Umfeld des Elternhauses prägend.
Nach der Militärzeit und einer kurzen Kriegsgefangenschaft beginnt Sombart 1945 ein Studium der Staatswissenschaft, Philosophie und Soziologie in Heidelberg. In „Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945-1951“ hat er diese Zeit beschrieben: den Genius loci, die Buden, die Weinstuben, die Lebensweise der verlorenen Generation – und natürlich die Menschen, die den Nachklang des Heidelberger Geistes der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg repräsentierten: Karl Jaspers und vor allem Alfred Weber, bei dem er später promovieren wird. Mit seiner Dissertation über den Grafen Saint-Simon findet er sein Thema: Soziologie als Krisenwissenschaft.
Doch Heidelberg bleibt eine Übergangsstation, „Vorhof in politisch-soziologischem, metaphysischem und erotischem Sinne“. Bereits 1947 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht: „Capriccio Nr. 1. Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang“ – Es sollte sein einziger Ausflug in dieses Genre bleiben. Ins selbe Jahr fällt ein mehrmonatiger Studienaufenthalt in Italien, „die erste Etappe einer Bildungsreise, die das ganze Leben dauern sollte“. Wer heute würde sein Leben so verstehen – als Bildungsreise? Dass sich dem Sohn des großen Werner Sombart sein Leben lang auf Grund seines Namens alle Türen öffneten, war ihm durchaus bewusst und er hat es genutzt.
Die nächste Station: Paris. „Pariser Lehrjahre 1951-1954. Leçons de Sociologie“ nennt er sein Buch über diese Zeit, dessen Umschlag das Bild einer nackten Frau ziert. Denn es sind eben nicht primär Leçons de Sociologie, die ihn in diesen Jahren umtreiben, sondern es sind vor allem Leçons d’Erotisme. Les Mystères d‘ Anne-Marie, Hommage à Laura, Poupous Körper – so lauten Kapitelüberschriften; auf Sombarts „Programm der vie expérimentale“ steht die Orgie: Party, Partie, Partouze. „Es war nicht eine Steigerung meines sinnlichen Lustvermögens, es war ein echter Erkenntnisgewinn“, resümiert er am Ende einer detaillierten Beschreibung – was die Gefühle der Frauen angeht, die in einem Club wie „Les Maronniers“ auf die Wünsche der Männer eingehen, reflektiert er nicht.
Die folgenden dreißig Jahre als Beamter beim Europarat waren für Sombart nichts als ein notwendiger Brotberuf, war doch das großbürgerliche Ambiente nach dem Zweiten Weltkrieg dahin, waren die finanziellen Grundlagen nicht mehr vorhanden. Im Jahr 1982, in seinem sechzigsten Lebensjahr, wird Sombart als Fellow ins Berliner Wissenschaftskolleg berufen: eine hohe Auszeichnung und ein entscheidender Wendepunkt, den er zwanzig Jahre später im „Journal intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin“ beschreibt. Sein Forschungsprojekt ist eine Monographie über Kaiser Wilhelm II. aus kultursoziologischer Sicht, die schließlich 1996 erscheint; im Gepäck hat er aber auch das Thema Carl Schmitt, dem er die bereits genannte Studie widmet. Das „Journal intime“ ist eine Hommage an das intellektuelle Milieu West-Berlins im letzten Jahrzehnt vor der Vereinigung; mit feiner Ironie schildert er die Welt am Wissenschaftskolleg, ihre Eitelkeiten und Rituale. Daneben als durchgehende Linie: Besuche von Prostituierten und in Bordellen, in einer Detailgenauigkeit beschrieben, die als Vision einer sexuellen Befreiung gedacht sein mag, aber wie dumpfe Altmännerphantasie wirkt. Das Thema lässt den Autor jedenfalls nicht los – so etwa, wenn er in einem Essay unter dem Titel „Die Hüllen müssen fallen“ die Oper als Ort des kollektiven Lustgewinns und Refugium aufklärerischer Nacktheit preist.
Ein Sehnsuchtsort für Sombart ist seit seiner Kindheit Rumänien geblieben, wo die Familie ein Schlösschen besaß. Zu den finstersten Zeiten des Ceauşescu-Regimes, 1972, kann er das Land noch einmal besuchen: Auf einer Internationalen Konferenz für Zukunftsforschung hält er einen Vortrag über den utopischen Sozialisten Charles Fourier. Doch die Reise bekommt eine ganz andere Richtung: Sie wird zu einer Entdeckungsfahrt in die Heimat seiner Mutter, in das luxuriöse Leben seiner Vorfahren und das Elend seiner im rumänischen Realsozialismus dahinvegetierenden Verwandten. Zwei Jahre vor seinem Tod, 2006, hat Sombart auch diese Erfahrungen, die ihn ganz anders, nachdenklicher, skeptischer zeigen, zu Papier gebracht: „Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter“. Im Juli 2008 ist er in Straßburg gestorben, im Familiengrab auf dem Waldfriedhof Dahlem liegt er begraben.
Im Alter lud Sombart Leser gelegentlich zu sich ein – so meine Berliner Vermieterin, die begeistert von ihm erzählte. Ich selber hatte dieses Glück nicht. Eine neue Generation kann Nicolaus Sombart vieles vorwerfen: sein elitäres Bewusstsein, seinen dandyhaften Lebensstil, seinen Egoismus, seine Unsensibilität gegenüber Frauen. Aber er war mehr als ein erotomanischer, amoralischer weißer Mann. Vor mir liegt ein kleines Widmungsexemplar, ein Sonderdruck in französischer Sprache aus dem Jahre 1981: „De Madame de Staël à Charles Fourier“. Ein kurzes, abweisendes Billet der großen Schriftstellerin an den Frühsozialisten aus dem Jahre 1808 nimmt Sombart zum Anlass für einen geschliffenen Essay über diese beiden so unterschiedlichen Menschen, ihre extrem divergierenden Welten und ihre Gemeinsamkeiten – vor allem in Bezug auf eine entgrenzte Erotik. Da zeigt sich Sombart nicht nur als vorzüglicher Stilist, sondern vor allem als Causeur und Connaisseur, als Kenner und Liebhaber, als unbefangener Beobachter anderer Welten – kurz: als ein Flaneur des Geistes.
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Nicolaus Sombart, Werner Sombart, West-Berlin