26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Zuhause

von Lorenz Bode

Es ist lange her, aber ich erinnere mich genau. Mein Großvater hat oft davon erzählt. Von der kleinen Ortschaft im sächsisch-brandenburgischen Grenzgebiet, die auch heute noch als Gemeinde Schraden im Osten des Landkreises Elbe-Elster ausgeschildert ist. Sie liegt ganz in der Nähe der Oberlausitz und des Spreewalds. Schon immer ging es dort fast ausschließlich um Landwirtschaft. Mein Großvater war Teil dieser Gegend: Er war Kleinbauer oder, wie er sagen würde, Hofbesitzer. Auf jeden Fall war er einer von denen, die mit diesem Landstrich in besonderer Weise verbunden, ja in ihm verwurzelt waren. Ihm bereiteten die Abgeschiedenheit der Feldmark und die Weite des Raumes kein Unbehagen. Er fühlte sich wohl zwischen Elbe und Oder, zwischen Dresden und Berlin. Für ihn war diese kleine Ortschaft bis zuletzt ein Zuhause, auch wenn er den Verlust des Hofes nie verwinden konnte.

Für viele ist solche tiefe Verbundenheit zu einem Ort heute unvorstellbar. Die Lebenswirklichkeit hat sich geändert. Vor allem junge Menschen suchen und finden ihr Zuhause meist neu in der Großstadt. Bei dieser Suche zeichnet sich aber nicht nur ein allgemeines Stadt-Land-Gefälle ab, sondern es geht auch um regionale Vorzüge: am liebsten Hamburg oder München, gern darf es auch Düsseldorf sein – die Wunschliste ist lang. Noch immer zu kurz kommen dabei Städte in Mitteldeutschland. Sie sind vor allem für junge Menschen häufig eine Terra incognita und können sich im Rahmen der Beliebtheit gegen Großstädte im Westen Deutschlands kaum durchsetzen. Warum das so ist, hat viel mit dem Image dieser Städte zu tun, und damit, wie dieses Image in der Gesellschaft und in den Medien gepflegt wird. Da werden viele Vorurteile gepflegt – vor allem gegenüber den Menschen, die dort leben.

Diese Negativbilder sind zwar nicht immer falsch, aber einseitig und stets bedauerlich. Hatten wir nicht geglaubt, die Mauer sei gefallen? Ist ein differenzierter Blick auf die Gesellschaft nicht selbst in Zeiten von Tellkamp-Romanen möglich? Viele – auch aus der jüngeren Generation – verharren in den Denkmustern und Narrativen ihrer Eltern, sei es aus Bequemlichkeit, aus Arroganz oder aus Unkenntnis.

Doch es gibt auch positive Beispiele. Allen voran ist hier Leipzig zu nennen. Die Stadt hat sich gemacht, vor allem dank des Ausbaus von Universität und Innenstadt. Leipzig entwickelt sich zu einer hippen, multikulturellen Großstadt. Auch medial wird das sichtbar. So titelte bereits 2014 die Stuttgarter Zeitung: „Aus Leipzig wird Hypezig“. Und die Leipziger Volkszeitung konstatierte 2022, dass knapp „17 Prozent der Leipziger mit Migrationshintergrund“ seien. Das macht Eindruck. Die Entwicklung von Leipzig kann ein Vorbild für andere Städte sein.

Der Schlüssel des Erfolgs ist die Zuwanderung. Das bedeutet: Werbung – nicht (nur) für Investoren, sondern vor allem für Zuwanderinnen und -wanderer. Es gilt, gezielt junge Menschen anzusprechen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen wollen. Hier liegt für beide Seiten eine große Chance. Die Städte können mit konkreten Angeboten die Integration erleichtern und so ein echtes Zuhause bieten. Gleichzeitig profitieren sie von den gewonnenen Fachkräften und der Vielfalt. Schöne Worte allein nützen jedoch nichts. Was häufig fehlt, ist eine klare Zuwanderungsstrategie. Passend dazu heißt es in der Beschreibung des 2021 abgeschlossenen und von der DFG geförderten Projekts Zuwanderungsstrategien – Planungspolitiken der Regenerierung von Städten: Trotz der Wachstumspolitiken entwickeln „die meisten Städte bisher keine expliziten Zuwanderungsstrategien.“ Das gilt es nachzuholen.