26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Zur Misere des Bildungssystems

von David P. Legrand

Das bundesdeutsche Bildungssystem steht vor herausfordernden Zeiten. Prognosen zufolge wird ein Lehrkräftemangel für die kommenden 20 Jahre vorausgesagt. Um die Unterrichtsversorgung sicherzustellen empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) Beschäftigungsreserven zu erschließen. Die Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte soll sich erhöhen, Lehrerinnen und Lehrer an Schulen mit einer mangelnden Unterrichtsversorgung abgeordnet, der Ruhestandseintritt angepasst und Teilzeitarbeit begrenzt werden. Klassen könnten größer und ein hybrider Unterricht eingeführt werden, um zwei Klassen parallel zu unterrichten. Eine erhebliche Mehrbelastung und Mehrarbeit für Lehrkräfte wären die Folgen. Weniger Lehrer begleiten mehr Schüler. Um Lehrkräfte zu entlasten, sollen Studierende sowie anderes nicht ausgebildetes Lehrpersonal unterstützen und Selbstlernzeiten für Schüler erhöht werden. Mehr Quer- und Seiteneinsteiger unterrichten kurzfristig eigenständig. Im Umgang mit der Mehrbelastung werden Achtsamkeitstraining und eMental-Health-Angebote für Lehrkräfte angeregt.

Einer 2022 von Mußmann und Hartwig veröffentlichten Studie zufolge arbeiten Lehrkräfte bereits heute deutlich mehr als arbeitszeitrechtlich und tarifrechtlich vorgegeben ist. Teilzeitlehrkräfte sind überproportional, arbeitsanteilig mit Mehrarbeit konfrontiert.

Forschungen zeigen, dass gute Rahmenbedingungen für die Initiierung von Lernprozessen von zentraler Bedeutung sind. Die Gegebenheiten im Bildungswesen werden sich mit den Vorschlägen der SWK weiter verschlechtern und die angeregten Entlastungen dürften sich kaum bemerkbar machen. Eine dauerhaft hohe Arbeitsbelastung lässt sich auch nicht mit Achtsamkeitstraining und eMental-Health-Angeboten reduzieren.

Das Schulsystem ist selektiv und fördert soziale Disparitäten. Die Kopplung zwischen der sozialen Herkunft von Kindern und den individuell erlangten Kompetenzen ist stark ausgeprägt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen der SWK verschärfen diese Kopplung weiter. Selbstlernphasen und Hybridunterricht verlagern die Verantwortung von der Schule verstärkt auf das Elternhaus, wodurch die soziale Herkunft weiter an Bedeutung gewinnt. Schüler, deren Eltern nicht die Möglichkeit haben, Selbstlernphasen und Hybridunterricht zu unterstützen, werden weiter benachteiligt und Chancenungleichheiten nehmen zu.

Bei der Frage, wie dieser Bildungsmisere Abhilfe geschaffen werden kann, muss das Augenmerk auf drei Dinge gelegt werden: die Attraktivität des Berufsbildes der Lehrer, das Schulsystem und die eigentlichen schulischen Bildungsziele.

Die von der SWK vorgeschlagenen Maßnahmen verstetigen den Lehrkräftemangel. Immer weniger Menschen werden sich unter diesen Bedingungen für ein Lehramtsstudium entscheiden. Stattdessen muss das Berufsbild der Lehrkraft an Attraktivität gewinnen. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen wie zum Beispiel kleine Klassen, Planbarkeit, eine adäquate Unterrichtsversorgung sowie eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Ein Ausweg aus der Bildungsmisere verschafft ein kritischer Blick auf das Curriculum. Er verrät, welche Unterrichtsinhalte herausgekürzt und wo Unterrichtsstunden gestrichen werden könnten. Qualität statt Quantität: Das entlastet Lehrkräfte und würde zugleich die Unterrichtsversorgung gewährleisten. Was Schüler lernen sollen und für ihren weiteren Lebensweg benötigen, sind Grundlagen dieser Überlegungen.

Gleichzeitig müssen die weniger unterrichteten Stunden durch andere Lernformate ersetzt werden. Arbeitsgemeinschaften, Workshops und Seminare zu unterschiedlichen Themen, die von externen Akteuren aus der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung begleitet werden, könnten hier ansetzen. So kann ein Schwerpunkt auf der Politischen Bildung liegen. Didaktisch sollten die Formate interessen-, handlungs-, problem- und erlebnisorientiertes sowie partizipatorisches Lernen ermöglichen.

Bildungsziele müssen sich den neuen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft anpassen. Umfangreiche und mitunter schwer einzuordnende Informationen sind mit wenige Mausklicks schnell zu erhalten. Heute benötigt man weniger ein Verfügungswissen, sondern vielmehr Partizipationskompetenzen, wie Oskar Negt konstatiert. Kritische Urteils-, Analyse- und Handlungsfähigkeit sind hierfür wichtig. Die beschriebenen Arbeitsgemeinschaften, Workshops und Seminare könnten genau hierbei einen zentralen Beitrag leisten.