26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Dokumentiert: Dummheit des Jahres 2022

von Gleimhaus Halberstadt

Zum zweiten Mal vergibt das Gleimhaus Halberstadt die Schmähauszeichnung „Dummheit des Jahres“. Im Januar war die Öffentlichkeit aufgerufen, Vorschläge einzureichen. Knapp 100 Einsendungen sind eingegangen. Nun liegt das Votum der Jurorin, Professor Heidi Kastner (Linz), Expertin für Forensische Psychiatrie und Verfasserin eines Buches über die Dummheit, vor.

Wenig überraschend hat der russische Angriff auf die Ukraine die Einsendungen von Vorschlägen zur „Dummheit des Jahres 2022“ beherrscht. Viele verschiedene Facetten des weltgeschichtlichen Ereignisses wurden in den Blick genommen und dabei, ganz dem Wesen der Dummheit entsprechend, auch konträre Positionen vertreten. Mehrere Einsendungen bezeichneten den Angriff an sich als dumm, andere die Sanktionen der westlichen Welt, andere wiederum die Forderungen nach einem Ende der Sanktionen gegen Russland und der Unterstützung der Ukraine. Heidi Kastner unterscheidet diesbezüglich zwischen Dummheit und Verbrechen: „Ein Angriffskrieg, mit dem ich mir unter Inkaufnahme so genannter ‚Kollateralschäden‘ (Menschenleben, Zerstörung von Lebensraum anderer) Machtzuwachs verschaffen will, ist eine kalkulierte Handlung, die den eigenen Vorteil höher wertet als den Nachteil (den man ja primär bei den anderen verortet). Die Sanktionen wurden wohl vorhergesehen, aber als begrenztes und kalkulierbares Risiko betrachtet (was sie auch sind, es gibt genug Länder, die nach wie vor ihre Geschäfte mit Russland machen). Wir haben es also primär mit einer geplanten Schädigung anderer zum Zweck der eigenen Vorteilssuche zu tun, und das ist in erster Linie ein Verbrechen.“

Einen Ausbund an Dummheit machen mehrere Einsendungen in den Argumenten gegen die Sanktionen und gegen die Unterstützung der Ukraine aus. Die Annahme, die Unterstützung verlängere das Leiden der ukrainischen Bevölkerung, bedenke nicht die Konsequenzen einer russischen Herrschaft für die ukrainische Bevölkerung. Zu der Ansicht, dieser Krieg gehe uns nichts an, gelange man nur durch die Einengung des Blicks auf den eigenen Tellerrand. Wenn gefordert werde, die Sanktionen gegen Russland aufzugeben, um unseren Lebensstandard nicht zu gefährden, dann liege dem ein einfältiges Verständnis von Lebensstandard zugrunde, das allein auf materiellen Wohlstand beschränkt sei und die humanitären Werte ignoriere. Diese Werte, wie etwa Solidarität, seien ebenfalls eine große Errungenschaft.

Diese Argumente gegen die Sanktionen gegenüber Russland und gegen die Unterstützung der Ukraine stellen für die Jurorin Prof. Heidi Kastner die Dummheit des Jahres 2022 dar. In Reinform liege diese vor in dem offenen Brief der Kreishandwerkerschaft Halle-Saalekreis an Bundeskanzler Olaf Scholz vom 17. August, in dem diese sich obendrein ganz unzünftig auch die Kompetenz eines Meinungsforschungsinstituts anmaßt und ihre Position als die Mehrheitsmeinung des Volkes behauptet.

Die Forderungen nach einem Ende der Sanktionen und der Unterstützung bewegen sich, so Kastner „im breiten Spektrum zwischen unverhohlenem Egoismus (‚wir schaden uns selbst‘) und (pseudo-)moralischen Argumenten (‚das Leiden der Bevölkerung wird verlängert‘) … Die ausschließliche Fokussierung auf den eigenen Schrebergarten wird in vielen Facetten sichtbar (‚es ist nicht unser Krieg‘), wobei der Kreishandwerkerschaft Halle, die sich vorrangig um den ‚schwer erarbeiteten Lebensstandard‘ ihrer Kunden sorgt und aus dieser Kundschaft eine repräsentative Position ableiten zu können meint, hier schon eine besondere Stellung einzuräumen ist. Die umfassende und inhärente Dummheit dieses Briefs wurde zurecht mit einer Einsendung gewürdigt, alle angeführten Argumente sind stichhaltig, nicht erwähnt wurde hier nur der Aspekt der moralischen Verkommenheit, die der frank und frei formulierten Egozentrik zu entnehmen ist. Wenn Lebensstandard nur mehr in materiellen Werten bemessen würde, hätten wir die ausschließlich wirtschaftsliberalistisch diktierte Haltung zu allen Fragen des Zusammenlebens wirklich nachhaltig verinnerlicht und müssten die in der EU so beliebte Berufung auf unsere ‚Werte‘ eigentlich ad acta legen; ‚Solidarität‘, ‚Demokratie‘ – ‚nice to have‘, aber kein ‚must have‘, wenn dafür liebgewonnene Annehmlichkeiten geopfert werden müssten.“

Eine der Einsendungen nominierte die neue Verschwörungstheorie, die westlichen Regierungschefs zielten bei ihrer Unterstützung für die Ukraine auf einen Dritten Weltkrieg ab und wollen ihre eigenen Völker knechten, die verbreitet sei in Kreisen, die den etablierten Medien Meinungsdiktatur vorwerfen und sich stattdessen aus rechtspopulistischen Organen informieren. Bei aller Abgründigkeit ist es schwer, dieses Thema ernstzunehmen: „Das Narrativ ist hinlänglich bekannt: nur russische Medien sind vertrauenswürdig, nur dort herrscht Meinungsfreiheit, bei uns hingegen Zensur, Diktatur etc. Man möchte allen, die sich hinter dieser Flagge versammeln, alles Gute in ihrem neuen Leben in der schönen neuen Welt (Russland unter Putin) wünschen und hoffen, dass es ihnen bald gelingt, sich vom unerträglichen Joch eines demokratisch regierten Wohlfahrtsstaats westlicher Prägung zu befreien. Eventuell wäre es ja sogar trotz der aktuellen Sanktionen möglich, ein umfassendes Auswanderungs- und Einbürgerungsabkommen für einschlägig Freiwillige zu vereinbaren,“ so der Vorschlag Kastners.

Das Gleimhaus Halberstadt versteht sich als Museum der deutschen Aufklärung. Die Aufklärung, die die Vernunft zum leitenden Prinzip erklärt hat, war nichts anderes als ein Kampf gegen die Dummheit. Diese ist demnach ebenfalls ein zentrales Thema des Hauses. Der Blick auf die Dummheit hilft, Aufschlüsse über unsere Zeit und über den Stand der Aufklärung zu gewinnen und den Diskurs anzuregen. Das vollständige Votum der Jurorin ist auf der Internetseite des Gleimhauses nachzulesen.

Dummheit des Jahres 2022: Die Argumente gegen die Sanktionen und gegen die
Unterstützung, Pressemitteilung des Gleimhauses Halberstadt, 21.02.2023, Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Gleimhauses.