Diese unsere Zeit ist in Bewegung, ja in Aufruhr geraten; Verunsicherungen und Ängste in der Bevölkerung nehmen beständig zu. Aber eine öffentliche, kontroverse und aufklärende Gesellschaftsdebatte findet nicht wirklich statt. Mehr noch: Im politischen Mainstream-Diskurs zum heutigen Zeitgeschehen dominieren regressive Deutungsmuster – Krisenmanagement versus Gestaltung von Gegenwart und Zukunft; Verteidigungsfähigkeit versus Transformationsfähigkeit; Zeitenwende versus Systemische Wende. Dies fällt hinter den schon einmal erreichten Stand der öffentlichen Gesellschafts- und Transformationsdebatten des zurückliegenden Jahrzehnts weit zurück. Und das gerade heute – wo es angesichts der neuen globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen um eine neue Art gesellschaftlicher und politischer Kommunikation geht, und mehr noch um eine neue (zweite) Aufklärung (Ulrich von Weizsäcker). Eine solche erfordert meines Erachtens grundlegende Revisionen und ein neues Verständnis u. a. von Mensch und Natur, von Wachstum und Wohlstand, von Zukunft ohne (traditionellen) Fortschritt, von Krieg, Frieden und Entwicklung.
Und dazu gehört nicht zuletzt die hier benannte Frage: In welcher Zeit und in welcher Gesellschaft leben wir? Sie bewegte seit jeher nicht nur in dieser oder jener Form viele Menschen, sondern stand besonders auch im Fokus soziologischen Denkens. Denn nur über diesen Analyserahmen ließen und lassen sich Zugänge zu und Auskünfte über sozialen und politischen Wandel sowie über gesellschaftliche Transformationen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewinnen.
Zur Suche nach heutigen Antworten auf diese Frage „In welcher Zeit und in welcher Gesellschaft leben wir?“ sollen hier drei Diagnosen formuliert und knapp begründet werden:
1. Zur Epochen-Diagnose
Im Geschichtsprozess gibt es zwei Typen von Epochen (als Zeit- und Handlungsraum). Zum einen Epochen der Evolution, in denen die Grundstrukturen relativ stabil bleiben und Veränderungen sich innerhalb dieser vollziehen; zum anderen Epochen des Umbruchs, in denen die bislang dominierenden Produktions- und Lebensweisen in Turbulenzen, oft in Krisen und in Widerspruch zu neu sich herausbildenden materiellen, sozialen, kulturellen Trends geraten und Chancen für Weichenstellungen, für einen Pfadwechsel möglich werden.
In der heutigen Zeit leben wir in einer solchen Epoche historischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Der historisch herausgebildete und lange Zeit (rund 250 Jahre) dominierende Entwicklungspfad der industriell-kapitalistischen Moderne mit seinem expansiven und dynamischen „Steigerungsspiel“ (Naomi Klein, Hartmut Rosa) ist mit immer größeren Risiken und Gefahrenpotenzialen für Natur, Gesellschaft und Mensch verbunden und erfordert grundlegende Umwandlungen der Produktions- und Lebensweise. Dies nicht so sehr in Gestalt eines abrupten Bruchs, sondern einer Gesellschaftstransformation, in der Aufhebung, Bewahrung und Neukonstitution sich verbinden. Transformation verstanden als Pfadwechsel in Form evolutionären Wandels und eingreifendem Handeln von Akteuren.
2. Zur Zeit- und Raum-Diagnose
Eine solche Übergangsepoche umfasst in der Regel einen längeren historischen Zeit-Raum. Deshalb ist zu fragen, was charakterisiert den gegenwärtigen Zeitabschnitt?
Meines Erachtens ist dieser durch zwei miteinander verbundene Entwicklungstendenzen charakterisiert: Zum einen durch die Erosion des sich seit den 1970/80er Jahren herausgebildeten marktliberalen (neoliberalen) und global dominierenden Entwicklungs- und Regulationspfads. Das gegenwärtig Neue aber ist eine dynamisch verlaufende Abfolge von sich wechselseitig aufladenden Krisen, die inzwischen die wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen Fundamente treffen. Eine Situation, die es so gerade in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 nicht gab: Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, Migrationskrise 2015, Corona-Krise 2020 ff. Jahre, Ukraine-Krise als Krise der Weltordnung, soziale Krise (soziale Polarisierung; Ende der Aufstiegs- und Wohlstandsgesellschaft im Westen; Hunger, Not, Vertreibung im globalen Süden), Demokratie-Krise (massiver Vertrauensverlust in das westliche Demokratiemodell, Aufstieg des Rechtspopulismus und -nationalismus, Etablierung von „Wahlautokratien“) und dazu die alles bestimmende und überragende Klima- und ökologische Krise mit ihren irrreversiblen Gefährdungen und Zerstörungen der Natur. Das Spezifische dieser Situation besteht in einem sich abzeichnenden Verlust der Kontrolle und Beherrschung dieser Krisen und in den damit verbundenen Instabilitäten und nicht absehbaren Risiken.
Ein theoretischer Rahmen zur Analyse, Erklärung und Deutung dieser multiplen Krise (u. a. gemeinsame Wurzel, innerer Zusammenhang, Struktur und Folgen) liegt bislang nicht vor, sieht man einmal von Gramscis Konzept der „Organischen Krise“ als Hegemoniekrise ab.
Zum anderen ist dieses heutige Zeit-Raum-Verhältnis als Zwischenzeit und als Übergangsstadium (-ordnung) zu deuten.
Entstanden ist ein gesellschaftliches Vakuum, weil sich bislang keine systemische Alternative durchsetzen konnte: d.h. nicht eine Nachhaltigkeits-Transformation als Alternative zum marktliberalen / neoliberalen Entwicklungspfad; nicht eine neue, multilaterale, demokratisch organisierte Weltordnung als Alternative zu der seit den 1990er Jahren herausgebildeten unipolaren Weltordnung unter Hegemonie der USA.
Zwischenzeit, Übergangsordnung, wo das Alte erodiert und das Neue sich nicht (noch nicht?) verwirklichen kann. Die weitere Entwicklung bleibt daher vorerst offen. Eine verlässliche Prognose ist nicht möglich. Auch weil Krisen nicht einfach den schnellen Zerfall der ökonomischen, politischen, kulturellen Ordnung bedeuten, sondern auch eine Chance zur „Reorganisation des herrschenden Blocks“ (Gramsci) beinhalten.
3. Zur Alternativ-Diagnose
Alle organischen Krisen in der Geschichte der kapitalistischen Moderne waren bislang mit gesellschaftlichen Alternativen und Transformationen auch innerhalb der Welt des Kapitals verbunden; in Abhängigkeit von den spezifischen Gegebenheiten und Akteurskonstellationen sowohl in progressive wie regressive Richtung. So z. B. die New Deal-Transformation in der Zeit ab 1929 zuerst in den USA und Skandinavien und nach 1945 auch in Westeuropa, Japan und weiteren Teilen Asiens; Neoliberale Transformation seit den 1970er/80er Jahren zuerst in den USA, Chile, Großbritannien und dann im globalen Maßstab.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie geht die Gesellschaft heute mit dieser neuen Krisensituation um? Stephan Lessenich (Direktor des legendären Instituts für Sozialforschung Frankfurt a. M.), der dies untersucht, verweist hier auf ein regressives, ein reformistisches (begrenzte Reformierung als Anpassung) und ein transformatives (Krise als Chance für Wandel) Reaktionsmuster. Dabei sieht er das Regressive („Weiter so“, Rückkehr zur „Alten Normalität“ und zur sogenannten „Einheit der Gesellschaft“) als das gegenwärtig Dominante in Politik und Gesellschaft an.
Betrachtet man nun nicht nur dieses aktuelle Zeitgeschehen, sondern bezieht auch längerfristige Trends und historische Vergleiche mit ein, so sind drei mögliche Entwicklungsszenarien denkbar:
– Herausbildung alter und neuer imperialer Machtzentren, zunehmende konkurrierende Auseinandersetzungen (inklusive militärische) um neue Lebensräume, Einflusssphären in einer „aufgeteilten“ Welt (Harald Welzer) mit akuten Gefährdungen für die menschliche Existenz überhaupt;
– Entwicklung eines neuen kapitalistischen Akkumulationsregimes mit der Tendenz zu einem „Grünen Kapitalismus“;
– Schritte, Wege hin zu einem „Green oder auch Sozialem New Deal“ als Transformation im und des Kapitalismus mit möglichen, längerfristigen Übergängen auch zu einer sozialökologischen Wende.
Auch wenn in der gegenwärtigen Situation die Chancen für einen alternativen Entwicklungspfad weitgehend blockiert und deshalb recht gering sind, sollte das progressive Lager an der strategischen Aussage und Orientierung festhalten: Die Transformation zu einer nachhaltigen, ressourceneffizienten und ausschließlich umweltkompatiblen Wirtschaftsweise und sozial gerechten Gesellschaftsform ist das drängende Gebot des 21. Jahrhunderts, ist die historische Alternative. Aufklärung und klare politische Botschaften, Kampf um Deutungsmacht sind gerade in Zeiten von Krise, Verunsicherung und zunehmendem Rechtspopulismus dringend erforderlich.
Doch – und dies ist genauso zu erkennen und zu benennen – die ökologischen und sozialen Kipppunkte mit ihren eigendynamischen und unvorhersehbaren Folgewirkungen rücken immer näher und das Zeitfenster für diese progressive Gesellschaftsumwandlung verkleinert sich. Der Club of Rome betont daher in seinem jüngsten Report („Welt für Alle“, 2022): „Wir stehen an einem Scheideweg […], doch es ist noch nicht zu spät“. Nur müssten im nächsten Jahrzehnt zumindest die Weichen in Richtung eines sozial-ökologischen Entwicklungspfades gestellt werden, wofür der Club eine Reihe sozialer und ökologischer Kehrtwendungen markiert. So vor allem die Begrenzung der Erderwärmung unter zwei Grad, den raschen Übergang zu erneuerbaren Energien, das Ende der weltweiten Armut bis spätestens 2050 und eine grundlegende Umverteilung des Vermögens. Das alles geht nicht ohne Eingriffe in das kapitalistische Wirtschaftssystem.
Gesellschaftskritische Transformationsforscher haben durch empirische und theoretische Forschungen und Studien über einen längeren Zeitraum Ansätze, Konzepte, Strategien für eine alternative Entwicklungsrichtung erarbeitet, diskutiert und öffentlich vorgestellt. So die Konzepte „Nachhaltigkeits-Transformation“, „Sozial-ökologische Transformation“ bzw. „Gesellschafts-Transformation“, „Gelenkte Marktwirtschaft“, „Postwachstum“, „Green New Deal“, „Gemeinwohlökonomie“. Wenngleich sie sich in ihrem Ansatz, in ihrer Struktur und Form unterscheiden, zielen sie doch alle letztlich auf einen neuen, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklungspfad ab. Und sie verdeutlichen zugleich: Es gibt nicht so sehr einen Ideen- als vielmehr einen strukturell, gesellschaftlich und global bedingten Umsetzungsstau.
Die Frage nach dem Wie, nach den praktischen Wegen und handelnden Akteuren eines solchen grundlegenden gesellschaftlichen Richtungswandels erlangt deshalb heute zentrale Bedeutung. Hier ist auch eine Umkehr der zeitgenössischen Gesellschaftsforschung erforderlich. Dabei reicht jedoch eine „westliche“ Perspektive weniger denn je aus. Denn die heutigen Entwicklungsprozesse (Finanzialisierung, Klima- und ökologische Krise, soziale Spaltungen, Flüchtlingsströme) sind letztlich globaler Art und betreffen die Menschheit als Ganzes. Im 21. Jahrhundert sind daher im Prinzip alle Regionen und Länder mit den Herausforderungen eines ökologischen, sozialen, politischen Wandels konfrontiert. Die UN-Agenda 2030 mit ihren fixierten Schwerpunkten für eine „Nachhaltige Entwicklung“ zeichnet dafür einen gangbaren Pfad. Die Sicht auf das Transformationsgeschehen muss deshalb die unterschiedlichen Regionen mit ihren spezifischen Ansätzen, Wegen, Fortschritten und Rückschlägen – wie z. B. gegenwärtig in Lateinamerika – erfassen. Und besonders China erlangt für die Entwicklung einer sozial-ökologischen Transformation im globalen Maßstab eine zunehmende Bedeutung (Michael Brie, Rainer Land).
Die Frage nach dem Wie der gesellschaftlichen Transformation führt hierzulande gegenwärtig unweigerlich zu der Frage, ob und wie die Austragung der Interessenkonflikte verbunden werden kann mit einem offenen Gesellschaftsdiskurs darüber, was das Land im Interesse von Friedenssicherung und Entwicklung wirklich braucht und wie gemeinsam Wege und Strategien eines ökologischen und sozialen Umbaus und zu einem „Guten und sicheren Leben für alle“ zu finden sind. Das erfordert verstärkte Hinwendung zum sozialen „Unten“ – zu dem Alltagsleben und den -erfahrungen sowie -bedürfnissen und zu den praktischen Beispielen alternativen Lebens und Wirtschaftens im lokalen und regionalen Raum. Aber dies erfordert auch den Blick nach „Oben“ zu richten – zu den in Staat, Politik und Eliten dominierenden Blockaden sowie den sich angesichts der zunehmenden ökologischen, sozialen, gesellschaftlichen Gefährdungspotentiale dort vollziehenden Differenzierungsprozessen. Denn die erforderliche gesellschaftliche Transformation verlangt – gerade in komplexen, modernen kapitalistischen Gesellschaften – heute mehr denn je breite gesellschaftliche Veränderungsallianzen auf der Grundlage eines neuen gesellschaftlichen Konsens und historischen Kompromisses. Und dies stellt dann angesichts der strukturellen und mentalen Transformationsblockaden (und gerade im „oberen Segment“) auch ganz neue Anforderungen an das Wirken gesellschaftskritischer Akteure – in Theorie und Praxis.
Schlagwörter: Club of Rome, gesellschaftliche Transformation, Gesellschaftsforschung, Krisen, Rolf Reißig, Übergangsepoche, Umsetzungsstau, Veränderungsallianzen