25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Zum Wahlgeschehen in Schweden

von Gregor Putensen

11. September –Tag der Wahlen zum schwedischen Reichstag (sowie gleichzeitig zu den Regional- und kommunalen Parlamenten des Landes). Wenn man am Abend dieses Tages die vom Fernsehen übertragenen Wahlpartys der bisher im Parlament vertretenen Parteien betrachtete, so präsentierte sich bei den meisten von ihnen eine Schau von etwas fröhlich-infantil hüpfenden mit amerikanisch-diskant kreischenden Parteifunktionären und ihren Sympathisanten. Man hätte glauben können, dass fast alle Partybesucher – auch der kleinen Parteien – dieses zu laut geratenen Trubels (zumindest wenn die TV-Kamera auf sie gerichtet war) den Sieg einer soeben errungenen Regierungsmacht bejubelten. Während es bei der Linkspartei, deren erklärtes Ziel es war, Eingang in einer linkssozial orientierten Regierung zu erreichen, bedeutend ruhiger zuging, war zunächst auch bei den Sozialdemokraten ausgelassene Siegesfreude angesagt. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) hatte erstmals im Vergleich zu den letzten zwei Wahlen 2014 und 2018 einen zweiprozentigen Stimmenzuwachs als stärkste Partei dieses Wahlgangs verbuchen können. Allerdings – wie so oft in Lebenssituationen nicht nur des einzelnen Privatbürgers, sondern auch in der so genannten großen Politik – hatte man sich zu früh gefreut.

Der knappe Vorsprung einer von den Medien leichtfertig als „mittelinks“ deklarierten Konstellation von SAP, Grünen, bürgerlich-bäuerlicher Zentrumspartei und Linkspartei wurde von den zu Mitternacht eintreffenden Wahlergebnissen aus dem bürgerlich-rechtspopulistischen Lager gekippt. Diese Allianz aus konservativ-großbürgerlicher Gemäßigter Sammlungspartei, Christdemokraten, Liberalen und den neofaschistisch orientierten Schwedendemokraten erreichte zunächst eine knappe Ein-Mandatsmehrheit von 155 zu 154 Parlamentssitzen, die sich nach der endgültigen Auszählung der letzten Briefwähler und im Ausland lebenden Stimmberechtigten um ein weiteres Mandat – also somit auf 156:153 – erhöhen sollte. Das bedeutete für die bisherige sozialdemokratische und erste weibliche Ministerpräsidentin des Landes, Magdalena Andersson, den unverzüglichen Rücktritt von ihrem Amt, das sie nunmehr bis zum Antritt einer neugewählten Regierung als Übergangsregierungschefin weiterführen soll. Der Parteivorsitz der Sozialdemokraten stand für Andersson dabei allerdings nicht in Frage.

Sie war als Vorsitzende erst im November 2021 nach dem Rückzug von Stefan Löfven nach überaus politisch deprimierenden drei Jahren als Premierminister gewählt worden. Allein für die Bildung seiner Minderheitsregierung nach den Wahlen 2018 brauchte Löfven 134 Tage. Nun war es also an dem Führer der Moderaten Sammlungspartei, Ulf Kristersson, das rechte Lager der liberal-konservativen Parteien und den rechtspopulistischen Schwedendemokraten als zweitstärkster Wählerpartei (mit dreiprozentigem Stimmenzugewinn!) so schnell wie möglich zu einer Regierungskoalition zu formieren. Möglichst bis zur von der Verfassung vorgegebenen ersten Einberufung des neu gewählten Parlaments zum Termin am 27. September. Ob nun mit den anrüchigen Schwedendemokraten oder ohne sie – eine Frage, über die sich die „anständigen“ bürgerlichen Parteien erst noch zu einigen hatten.

Die zurückliegende vierjährige Wahlperiode war nicht allein durch gravierende innenpolitische Probleme gekennzeichnet, die der sozialdemokratischen Minderheitsregierung, nach etwa drei Jahren durch das Verlassen der Grünen aus der ohnehin schwachen Koalition das Regieren noch schwerer machte. Neben den sich zuspitzenden bandenkriminellen Konflikten nicht nur in den Großstädten mit der höchsten EU-europäischen Todesrate in Bezug auf die etwas über zehn Millionen Einwohner Schwedens sowie eines wachsenden Rassismus in dem bisher in Sachen Einwanderung so toleranten Land offenbarte sich ein weiteres Dilemma partieller Unregierbarkeit für die Sozialdemokratie: Ihr war auf Grund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse lediglich erlaubt, in einem ihr vom bürgerlichen Parteienlager und den rechtspopulistischen Schwedendemokraten vorgegebenen Rahmen des Staatsbudgets zu agieren.

Aber auch welt- und außenpolitische Entwicklungen und Ereignisse ließen die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Andersson – nach den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die angespannte Situation nicht nur in der Gesundheitsversorgung (zunehmender Personalmangel in den Kliniken) und in der sich dramatisch verteuernden Stromversorgung – immer hilfloser auf die eigentlichen Erfordernisse des Klimawandels reagieren. Ein etwa zehnprozentiger Inflationsanstieg und die gewachsene Arbeitslosigkeit (rund neun Prozent) kennzeichneten bereits die Zeit vor dem eigentlichen Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine.

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Nun aber wirkten die weltpolitischen Ereignisse im Osten Europas massiv auf die Positionen und Entscheidungsfindungen der schwedischen Regierung ein. Die seit dem Beitritt zur EU 1995 einsetzende Erosion der sicherheitspolitischen Positionen des Landes – verkörpert in dem dereinst staatsdoktrinären Neutralitätsanspruch, sich aus jeglichem Krieg herauszuhalten – sollte nunmehr geradezu Knall und Fall preisgegeben werden. Knapp zwei Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine hielt Andersson einen NATO-Beitritt Schwedens noch nicht für angesagt, am 8. März dann das krasse Gegenteil: Schweden suche um die Mitgliedschaft in der NATO an. Dieser ungewöhnlich plötzliche Wandel einer regierungsoffiziellen Position in Hinblick auf eine über 200 Jahre praktizierte militärische Allianzfreiheit lässt auf ein starkes Maß an innen- und außenpolitischer Druckausübung schließen. Sowohl in Schweden selbst (mit einem hoch entwickelten rüstungsindustriellen Sektor) als auch bei seinem neutralen Nachbarn Finnland war seit Langem eine einflussreiche konservativ-militärische Lobby für einen NATO-Beitritt tätig.

Ihr Einfluss reichte aber bis dato noch nicht aus, um angesichts einer zwar allmählich schwindenden Mehrheit dagegen einen derart gravierenden Schritt auf die außen- und sicherheitspolitische Agenda zu setzen. Die jetzige Pro-NATO-Mehrheit scheinen Meinungsumfragen zu bestätigen. Die Linkspartei in Schweden macht dennoch geltend, dass für einen derartigen Schritt eine Volksabstimmung nötig sei. Es gilt unterdessen als offenes Geheimnis, dass von Finnland die ersten diplomatischen Impulse zum Positionswandel Schwedens in der NATO-Beitrittsfrage ausgegangen sein sollen. Russlands Einmarsch in die Ukraine hatte Finnland zu einem sofort öffentlichen Pro-NATO-Ansuchen veranlasst. Der vom kollektiven Westen in NATO und EU bejubelte sicherheitspolitische Kurswechsel Schwedens und Finnlands lässt sich vor dem Hintergrund blockpolitischer russischer Einkreisungsbefürchtungen kaum anders als Teilresultat einer militärstrategisch fatalen Fehleinschätzung der Moskauer Staatsführung betrachten. Zu deren Konsequenzen gehört, dass die Ostsee de facto schon vor dem formellen Beitritt der beiden Länder zu einem NATO-Binnenmeer geworden ist. Hierzu gehören neben der Remilitarisierung der schwedischen Insel Gotland die seit Jahren umfangreichen NATO-Manöver an der Nordkappe Europas. Die bereits 2016 mit den USA abgeschlossenen Gastland-Verträge Schwedens und Finnlands räumen den amerikanischen Truppen seither ungewöhnlich weitgehende militärische Entscheidungskompetenzen auf dem Territorium der beiden Länder bei Manövern und für den Kriegsfall ein.

Am 19. September wurden die Verhandlungen vom Vorsitzenden der Moderaten Kristersson zu einer bürgerlichen Regierungsbildung aufgenommen. Deren Ergebnisse sind vor allem in Hinblick auf die Rolle der Schwedendemokraten als zweitgrößter Partei des Landes innerhalb oder gegenüber einer rechtskonservativen Koalition von besonderem Interesse. Die gewachsene Resonanz für die Demagogie neofaschistisch-nationalistischer Argumente nicht nur auf dem breiten Land, sondern auch in den Städten, ist überaus beunruhigend. Das oftmals von den Massenmedien so gerne wohlfahrtsstaatlich bemühte freundlich-idyllische Schwedenbild mit Bezug auf Astrid Lindgrens Bullerbü ist nicht erst nach diesen Wahlen, sondern schon seit den vielen Jahren eines gewöhnlichen EU-Kapitalismus verblasst.

Das endgültige Ergebnis der Wahlen zum schwedischen Reichstag:

Linkspartei 6,7 Prozent (-1,3%) 24 Sitze
Sozialdemokratische Arbeiterpartei 30,2 Prozent (+2,2%) 107Sitze
Milieupartei (Grüne) 5,1 Prozent (+0,7%) 18 Sitze
Zentrumspartei 6,7 Prozent (-1,9%) 24 Sitze
Moderate Sammlungspartei 19,1 Prozent(-0,7%) 68 Sitze
Christdemokraten 5,3 Prozent (-1,0 %) 19 Sitze
Liberale 4,6 Prozent (-0,9%) 16 Sitze
Schwedendemokraten 20,5 Prozent (+3,0%) 73 Sitze