25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

Schweinskram mal anders

von Claudia Hüttel

Kein Tier hat sich in unser Leben so eingeschlichen wie das Schwein. Schon die zahlreichen sprachlichen Ausdrücke zeigen jedoch unsere Ambivalenz diesem Tier gegenüber. Vielleicht liegt es an der einstmals sehr engen räumlichen Beziehung zwischen Mensch und Schwein. Das Schwein gilt einerseits als Glücksbringer, etwas ist saugut, und wer hat in seiner Kindheit nicht gern Schweineohren gegessen? Andererseits ist es ein Symbol für alles Unreine. Islam und Judentum verbieten den Genuss von Schweinefleisch und unaufgeräumte Kinderzimmer bezeichnen Eltern gern auch mal als Saubude. Zugleich ist das Schwein der unangefochtene Favorit bei unserem Fleischverzehr.

Der norwegische Journalist und Historiker Kristoffer Hatteland Endresen geht in seinem Sachbuch der Frage nach, was passiert ist, dass wir dieses Tier lediglich noch in verarbeiteter Form wahrnehmen, uns wenig bis gar keine Gedanken über Herkunft, Haltung und Verarbeitung machen. Immer wiederkehrende Dokumentationen zur Massenhaltung von Schweinen oder tierquälerische Ferntransporte von Schlachtvieh führen bestenfalls zu Entsetzensäußerungen, verhindern jedoch nicht den Appetit auf Würste und Schinken.

Geschickt verbindet Hatteland seine persönlichen Erlebnisse auf einem norwegischen Masthof samt detailreicher Schilderung visueller und olfaktorischer Herausforderungen für ihn als Stadtmenschen mit einem kurzen kulturhistorischen Abriss (43.000 Jahre alte Höhlenzeichnungen in Indonesien) zum Verhältnis Mensch-(Wild)Schwein. Er schreibt darüber, warum es vom Menschen domestiziert wurde. Höchst informativ lesen sich die Kapitel, wie und warum das Schwein in verschiedenen Regionen und Kulturen nach anfänglicher Verehrung vom Speiseplan verschwand und zum „verbotenen Tier“ wurde.

Hatteland analysiert, wie Appetit und Abneigung unser Verhältnis zum „Borstenvieh“ bestimmen. Kleine Augen, große Schnauze und Nasenlöcher erzeugen auf den ersten Blick wenig Empathie, und die Vertreter ihrer Art landen ohne unsere bewusste Wahrnehmung ihres Lebenskreislaufs, quasi versteckt, erst „in fabrikähnlichen Komplexen“, dann als Boulette, Kotelett oder Grillsteak auf dem Teller.

Zugleich verblüfft der Autor den Leser mit den „Ähnlichkeiten“ zwischen Mensch und Schwein. Beide erkennen sich nicht nur im Spiegel. Sie sind Allesfresser und haben ein komplexes Sozialverhalten, einschließlich Rangordnung und Arbeitsteilung. Und beide sind dominant und nehmen neue Lebensräume ein auf Kosten der Biodiversität. Das Schwein verbreitete sich über die ganze Welt – auch dank der Europäer, die das Tier als Proteinquelle auf Eroberungszüge mitnahmen.

Bereits im zweiten Jahrhundert nach Christus wusste der griechisch-römische Arzt Galen: „Die Haut des Schweines, das Fettgewebe unter der Haut, seine Muskulatur und Organe sind den unseren verdächtig ähnlich.“ Das Schwein kann daher heute wichtige Dienste bei der Erforschung von Hautkrebs sowie bei den neurologischen Erkrankungen Alzheimer und Parkinson leisten. Bereits 1838 wurde eine Schweinehornhaut auf ein menschliches Auge transplantiert. Von 1920 bis in die 1980er Jahre wurde ausschließlich aus der Bauchspeicheldrüse unzähliger Schweine das für Diabetiker lebenswichtige Insulin gewonnen. Seit 1965 werden Herzklappen vom Schwein beim Menschen eingesetzt. Nunmehr konzentriert sich die medizinische Forschung darauf, ganze Organe zu transplantieren. Dazu müssen die Gene des Schweins manipuliert werden. Das wirft neben philosophischen auch rechtliche und ethische Fragen auf.

Hatteland unterstreicht am Ende seines informativen, mit Daten, Zahlen und Fakten unterlegten und trotzdem leicht zu lesenden Buches, dass die Mutationsfreudigkeit von Viren und die Rolle des Schweins als Zwischenwirt bei auf den Menschen übertragbaren tödlichen Krankheiten mit industrieller Tierhaltung zu tun haben. Sein Credo: weniger Fleisch essen und so die Massentierhaltung langsam eindämmen.

Kristoffer Hatteland Endresen: Saugut und ein wenig wie wir. Eine Geschichte über das Schwein, übersetzt von Frank Zuber / Günther Frauenlob, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 272 Seiten, 24,00 Euro (gebunden), 18,99 Euro (Kindle).

Claudia Hüttel, Diplom-Historikerin, arbeitete bis zur Pensionierung in der beruflichen Erwachsenenqualifizierung; sie lebt in Berlin.