25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

„Ellentie“ – ein verspäteter Nachruf

von Jürgen Klammer

Vor der Trauerhalle auf dem Auferstehungsfriedhof in Berlin-Weissensee hatte sich am 25. März 2022 um 14 Uhr eine Gruppe von rund dreißig Personen eingefunden. Gemessen an der früher überaus großen Fan-Gemeinde war am Tag des Abschiednehmens von Ellen Tiedtke die Gemeinde der Trauernden also eher bescheiden. Zulange zurück schon lagen deren große künstlerische Erfolge als Schauspielerin, Kabarettistin, Entertainerin, als Fernsehliebling „Ellentie“ sowie als Darstellerin diverser Phantasiefiguren in zahlreichen Kinderrevuen des Friedrichstadtpalastes. Zum letzten Mal stand sie dort 1991 auf der Bühne als „Eisverkäuferin“ in der Revue „Wohin mit dem Gespenst?“.

Die Trauerrede hielt der Schauspieler Conny Geier, Sohn des Kabarettautors Gerhard Geier (Eingeweihten auch ein Begriff als „Hemden-Geier aus Köpenick“). Die Familien waren eng befreundet, und Sohn Conny war bis zuletzt geduldiger Telefonpartner der Verstorbenen.

„Liebe Ellen, Deine Vorstellung ist zu Ende. Es war ein großer Auftritt. Es war ein Auftritt, packend, fesselnd, mitreißend, humorvoll, leidenschaftlich, laut, bis an die Grenzen gehend, dann wieder leise und zart, zurückhaltend und berührend. Auch komisch bis zur Albernheit, voller Leichtigkeit und Tiefgang. Du hast wirklich alle Register gezogen. Auf der Bühne, vor der Kamera, vor allem aber im Leben. Wo Du warst, warst Du omnipräsent.“

Eingefunden hatten sich Verwandte und enge Freunde, darunter Künstler und Weggefährten, wie die engste Vertraute Anne Füller und die langjährige Bewunderin Helga Boguhn, Grundschullehrerin aus Oderberg, die jahrelang ihre Schüler für „Ellentie“ begeisterte. Der Friedrichstadtpalast verabschiedete sich von seiner langjährigen Mitarbeiterin mit einem von Christine Tarelkin überbrachten Kranz. Thomas Trisch vertrat seine Mutter, Inge Trisch, die Erfinderin von „Ellentie“ und vieler anderer Figuren des DDR-Kinderfernsehens. Monika Jacobs, Textautorin der einzigen von Ellen Tiedtke 1985 erschienenen LP, nahm ebenso Abschied wie Autor und Regisseur Volkmar Neumann, wie der Westberliner Freund aus den 1960er Jahren und spätere UNESCO-Diplomat Dr. Klaus-Heinrich Standke sowie der über Jahrzehnte für alle handwerklichen Belange der Familie zuständige Fliesenlegermeister und Freund Rainer Kaps. Beeindruckend am Grab auch die Begegnung mit Prof. Dr. Jürgen Wendler, der vor mehr als 50 Jahren an der Charité die Stimme der Sängerin „reparierte“, wofür sich Ellen Tiedtke zu jedem Jahreswechsel mit einer ihrer berühmten selbstgefertigten Postkarten bedankte.

In den Erinnerungs-Gesprächen beim abschließenden „Kaffee-und-Kuchen-Schmaus“ fanden sich die längst schon verlorengeglaubten Kindergeschichten der Verstorbenen wieder. Ein Verwandter der „Schneller-Sippe“, wie Ellen Tiedtke immer formulierte, hatte sie gesammelt. Ein ebenfalls anwesender Verleger versprach spontan, diese reizenden Tipps von „Ellentie“ an ihre alten und hoffentlich neuen Freunde in Bälde als Kinderbuch in den Handel zu bringen.

So war es alles in allem ein kleiner, aber feiner, weil herzlicher und von vielen Erinnerungen geprägter Abschied. Die große Künstlerin Ellen Tiedtke fand ihre verdiente Ruhe an der Seite ihres Ehemanns Helmut Schneller. Der hatte seiner quirligen Frau als Autor Hans Rascher bald nach ihrem Start an der Berliner Distel und auch später brillante Texte auf den Leib geschrieben. Auf dem Grabstein findet sich neben Helmut Schneller auch der Name des Distel-Pianisten Rudolf von Hradeczky. Der echte österreichische Freiherr hat die Kabarettistin jahrelang unter seinem bescheidenen Künstlernamen Rudolf Hilberg zu ihren Liedern und Chansons auf dem Klavier begleitet.

Das Grab auf dem Auferstehungskirchhof in Berlin-Weissensee ist somit nicht nur eine Ruhestätte, sondern auch eine Stätte des Gedenkens an große Künstler der Kleinen Kunst. Mit der Grabstein-Inschrift „Ellentie Schneller“ hat sich dort nun auch Ellen Tiedtke dazugesellt.

Der nachfolgende Beitrag erschien anlässlich des 90. Geburtstages der Schauspielerin Ellen Tiedtke am 16. März 2020 in der Märkischen Oderzeitung vom 14./15.3.2020.

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„Hygiene! Hygiene!
Sauberkeit ist Trumpf!
Mensch, Paula reich die Butter her,
sie liegt auf meinem Strumpf.“

Mit diesem Refrain begeisterte Ellen Tiedtke als „HO-Verkäuferin“ am 9. Juni 1953 das Publikum in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal im Cottbuser „Haus der Freundschaft“. Es war die Premiere des kurz zuvor gegründeten Kabaretts „Stichlinge“. Walter Niklaus, Oberspielleiter am Cottbuser Theater, hatte Texte geschrieben, drei junge Schauspieler sowie einen klavierspielenden Dramaturgen um sich geschart, intensiv geprobt und so der Stadt Cottbus das erste politische Kabarett überhaupt beschert. „Aufgewacht“ hieß das Programm in den politisch brisanten Tagen des „Neuen Kurses“ und des „Volksaufstands vom 17. Juni“.

Mit „kodderigem Mundwerk, das an Lotte Werkmeister erinnerte“, so damals ein Rezensent, gab Ellen Tiedtke ihr Debüt als Kabarettistin. Sie hatte ein Jahr zuvor am Cottbuser Theater ihr erstes Engagement nach der Schauspielschule angetreten. Dort war sie sogleich Publikum wie Presse in ihrer Rolle als Bäuerin Armgard in Schillers „Wilhelm Tell“ mit einem „hinreißenden Ausbruch“ aufgefallen. In den Neuesten Nachrichten vom 10.09.1952 ist zu lesen: „Hier kündet sich eine ungewöhnliche Begabung an!“

Die Rezensentin sollte Recht behalten. Die 1930 im ostpreußischen Bischofsburg geborene und in Schwerin aufgewachsene Tochter eines Molkereidirektors wollte schon als Kind ans Theater. Nach dem Abitur ging sie zur Schauspielschule und wurde anschließend kurzerhand von Intendant Konrad Gericke engagiert. In Cottbus spielte sie drei Jahre lang ernste und heitere Rollen, bis sie für ein Jahr ans Theater nach Frankfurt an der Oder wechselte. Von dort aus ging es mehr durch Zufall zum Kabarett – zunächst zur „Leipziger Pfeffermühle“ und anschließend an die Berliner „Distel“. Hier wurde sie neben Gerd E. Schäfer zu einem Star der Unterhaltungskunst, auch dank der Einfälle ihres Ehemanns Hans Rascher, dem wohl besten Textautor des DDR-Kabaretts.

Ab 1965 folgten zunächst weitere erfolgreiche Jahre als Schlagersängerin („Fahr doch allein Karussell“) und Entertainerin im Fernsehen und in den Kulturhäusern der DDR. Die politisch-bissigen Texte von Hans Rascher und deren provozierende Interpretation brachten Ellen Tiedtke mehrfach Ärger mit den Funktionären, der bis zum Auftrittsverbot durch die Konzert- und Gastspieldirektion führte. Erst 1976 gab ihr Wolfgang E. Struck, Intendant des Berliner Friedrichstadtpalastes und ein guter Freund aus „Distel“-Zeiten, durch ein Engagement in der Revue „Das war’s“ eine neue Karrierechance. Im Friedrichstadtpalast begeisterte sie mit Liedern von Claire Waldoff und spielte sich anschließend in insgesamt elf Kinderrevuen, unter anderem mit Clown Ferdinand, in die Herzen der Kinder.

Und es blieben die Kinder, die das künstlerische Schaffen von Ellen Tiedtke in den 1980er Jahren bestimmten. Als „Ellentie“, einer alterslosen Person ohne erhobenen Zeigefinger, wurde sie mit phantasievollem Spiel von 1983 an bis zum Ende des DDR-Fernsehens im Dezember 1990 für tausende Kinder Ansprechpartner, Freundin, Ebenbild und Vertraute. Noch heute erreichen die beliebte Schauspielerin – die Leser der Fernsehzeitschrift „FF-dabei“ wählten sie zweimal zum Fernsehliebling des Jahres – liebevolle Briefe von ihren Verehrern aus dieser Zeit. Einige dieser Briefe hat Ellen Tiedtke aufgehoben. Und wenn sie dann vorliest, was ihr damals, 1986, der 9-jährige Danny aus Senftenberg mit krakeligen Buchstaben geschrieben hat – „Liebe Ellentie! Ich möchte dich gern heiraten, weil du genau mein Fall bist. Ich hab dich sehr lieb. Dein Danny. Du musst mir aber auf alle Fälle schreiben, auch wenn du schon einen Danny hast.“ – ja, dann leuchten ihre Augen.

Die Schauspielerin Ellen Tiedtke wohnte zusammen mit ihrem Ehemann, dem Autor Helmut Schneller, während ihres gesamten künstlerischen Schaffens in Berlin, von 1958 bis 2000 in einer Mietwohnung im Haus Möllendorffstraße 23 in Berlin-Lichtenberg. Mit einer Gedenktafel an diesem Haus sollte zukünftig an das Künstlerpaar erinnert werden.