Wie muteten Bücher ansonsten an, fehlte ihnen der behutsam-scharfe Schliff letzter Hand! Diesen wichtigen Strich vollziehen diejenigen, die nach außen hin meistens ungenannt bleiben. Zu jener Schar der für die Bücherwelt unentbehrlichen Heinzelmännchen rechnete sich auch Marion Fisch (1968–2022), Lektorin im linksgerichteten Hamburger Verlag VSA.
Begegnet waren wir uns einige Male auf der Leipziger Buchmesse, zusammengearbeitet hatten wir vor allem für Beiträge in der im Verlag herausgegebenen Zeitschrift Sozialismus. Aber erst eine gemeinsame Reise durch Litauen im September 2018 gab Gelegenheit, sich im regen Gedankenaustausch ein wenig näher zu prüfen. Für beide war es ohnehin eine großartige Sache, hatte uns doch eine Tagung über Literatur und Politik im Thomas-Mann-Haus in Nida (Nidden) auf der Kurischen Nehrung nach Litauen gezogen.
Durch Vilnius führte uns Egidijus Streikus, ein unscheinbarer älterer Herr, Spezialist – wie sich schnell zeigte – für häufig übersehene Zwischentöne in der Geschichte seines Landes. Auch er einst Lektor, so schätzt er jetzt die sichere Deckung über alles, überlässt lauten Streit in der Öffentlichkeit gerne anderen. Überrascht waren wir, als Streikus uns den von ihm am meisten geschätzten Platz in der Altstadt zeigte, denn dieser schien im Laufe der Zeit dem angenehmen Maß entwichen, widersprach jedenfalls der stilgerechten Bebauung ringsum. Nur hier allein, so nun der Stadtführer kurz, ließen sich mit einem einzigen Blick die großen geschichtlichen Phasen in der Stadtentwicklung noch überblicken: Dort die katholische Barockkirche aus der Zeit der polnisch-litauischen Union, dann das überaus typische Behördengebäude aus der langen Zarenzeit nach 1815, dort nun wieder die modernistische Grundschule aus der polnischen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, gleich gegenüber aber das überdimensioniert in Beton gegossene sowjetische Postamt, schließlich ein Einkaufszentrum, wie es mit seiner abweisenden Kühle für die Zweckbauten der Jetztzeit nicht typischer sein könne. 400 Jahre Geschichte, die für das Auge nur schlecht zusammenpassten.
Der sympathische Eigenbrötler mit dem leicht zu merkenden Namen, dem wir uns anvertraut hatten, hält übrigens Leo Jogiches für einen der großen Söhne der Stadt, auch wenn dort kaum noch jemand etwas über den wissen will. Er führte die neugierigen Besucher folgerichtig an Stellen, die fester mit dessen Zeit als Heranwachsender zusammenhängen. Die berühmte, fast schon riesige Flussmühle der Jogiches-Familie, einstmals ganz am Rande der Stadt gelegen, wurde in ihren aufgefundenen Fundamenten soeben freigelegt; sofort ließ sich etwas von der einstigen wirtschaftlichen Bedeutung des Mühlengeschäfts erahnen. Stehengeblieben in der Altstadt ist das damals der Familie gehörende größere Wohnhaus, dessen Mieteinnahmen Jogiches und Rosa Luxemburg in der Züricher Zeit materiell absichern halfen. Und das alte Stadtgefängnis aus der Zarenzeit, ein furchteinflößender gelblicher Ziegelbau, nur einen Steinwurf vom litauischen Parlament entfernt; es beherbergt noch immer Gefangene, so wie einst in dessen jungen Mannesjahren Leo Jogiches. An der Gefängnismauer wird übrigens an Menachem Begin erinnert, der hier für geraume Zeit eingesessen hatte, nachdem er im August 1940 vom sowjetischen Geheimdienst festgenommen worden war. Die anschließende Lagerhaft in Sibirien hatte Begin wohl ungewollt das Leben gerettet, weil er so noch rechtzeitig der deutschen Besatzung entkam.
Auf den letzten Punkt im Besuchsprogramm wollte Streikus nicht verzichten. So zeigte er uns Wohn- und Wirkungsstätten Michał Römers (litauisch Mykolas Römeris), dessen Name uns bis dahin überhaupt noch nie untergekommen war. Römer war ein später Sprössling eines deutschbaltischen Adelsgeschlechts, das sich im Laufe der Zeit in Teilen polonisiert hatte, so dass Polnisch dessen erste Sprache war. Während und nach dem Ersten Weltkrieg hin- und hergerissen zwischen polnischer und litauischer Nationaloption, entschied Römer sich für das neue Litauen, auch deshalb, weil er Piłsudskis verwegene Entscheidung, Vilnius für das neuentstandene Polen heimzuholen, für einen schweren politischen Fehler gehalten und entsprechend abgelehnt hatte. Römer war zwischen den Weltkriegen zu einem der wichtigsten Verfassungsväter Litauens aufgestiegen, wofür er bis heute entsprechend verehrt wird. Übrigens, so erfuhren wir, seien seine umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die er polnisch geschrieben hatte und die bis ins Jahr 1945 reichen, eine Fundgrube litauischer Zeitgeschichte sondergleichen.
Für Nida gab Streikus uns noch den Tipp, das Sartre-Denkmal oben auf der großen Wanderdüne nicht auszusparen, das in seiner Gestalt jenem wunderschönen Foto mit dem gegen den Meereswind ankämpfenden Sartre nachempfunden ist, welches der damals junge Fotograf Antanas Sutkus im Dünensand schießen konnte. Sartre hatte 1965 in Begleitung von Simone de Beauvoir den Ort aufgesucht, angezogen vor allem vom Sommerhaus der Manns, war aber oben auf der gewaltigen Düne schlichtweg überwältigt vom Anblick einer grandiosen Ostseelandschaft, die ihn sofort an Nordafrika erinnerte.
Viele Jahre später referierte nun unten im Ort Marion Fisch über „Lotte in Weimar“, jenes Romanwerk, das Thomas Mann in der erforderlichen Pause zwischen einzelnen Bänden der Joseph-Trilogie in der für ihn typischen ironischen Zuspitzung geschrieben hatte.
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