Unmittelbar unterhalb des Schlosses, am östlichen Ende der Heidelberger Altstadt, liegt ein verwunschenes Gässchen, von den Touristenströmen unberührt: der Friesenberg. Hier wohnte einige Jahre Alfred Mombert, einst gefeierter Dichter, heute kaum Heidelbergern noch bekannt. Das alte Haus, in dem noch das Refektorium eines aufgehobenen Klosters steckt, hatte Mombert im Sommer 1906 kennengelernt, als sich dort der Heidelberger Hebbelverein zu Vortragsabenden und Lesungen traf, und es dann gemietet. Die quelldurchklungene Stille unter dem Schloss hatte es ihm angetan, und so lebte er mehr als ein Jahrzehnt an diesem Ort, der ihm vielleicht am besten entsprach. Später musste er umziehen, in die Klingenteichstraße auf der anderen Seite des Schlosses – von dort wurde er im Oktober 1940 im Rahmen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion gemeinsam mit seiner Schwester ins südfranzösische KZ Gurs verschleppt.
Wer war dieser Dichter, dessen Schicksal heute mehr berührt als sein Werk?
Geboren wurde er vor einhundertfünfzig Jahren, am 6. Februar 1872, in Karlsruhe als Sohn eines jüdischen Kaufmanns. In seiner Heimatstadt besuchte er das Gymnasium, danach absolvierte er seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger und studierte Jura in Heidelberg, Leipzig und Berlin. Er legte die beiden juristischen Staatsexamina ab, wurde in Heidelberg promoviert und eröffnete dort 1899 eine Anwaltskanzlei, die er aber bereits nach sieben Jahren aufgab, um sich ganz der Schriftstellerei widmen zu können.
Bis auf zwei Jahre, die er in München verbrachte, und zahlreiche Reisen, die ihn kreuz und quer durch Europa, in den Maghreb und in die Levante führten, blieb er seiner Wahlheimat Heidelberg treu. Schon am Friesenberg, später in der Klingenteichstraße trug er eine immense Bibliothek zusammen, seine Bücherhalle, die durch den Einsatz seines Freundes Richard Benz gerettet werden konnte und heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufgestellt ist. Benz gehörte zum engsten Kreis der Freunde, die Momberts Werk hoch schätzten: Martin Buber, Hans Carossa, Richard und Ida Dehmel gehörten dazu, Oskar Loerke, Max Dauthendey und Hermann Hesse.
Schon 1919 hatte Benz Mombert als „den Größten, der heute in deutscher Sprache dichtet,“ bezeichnet, 1928 wurde der Dichter in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen, aus der er dann – wie Döblin, Mann, Werfel und andere – nach der Machtergreifung wieder ausgeschlossen wurde. Was folgte, war ein Verbot der Werke, Boykott durch den Insel-Verlag; trotzdem konnte sich der unpolitische Mombert nicht entschließen, das Land zu verlassen, von dessen Sprache und Naturschönheiten er lebte. Nach seiner Deportation setzten Freunde, darunter Hans Carossa, alle Hebel in Bewegung, Mombert aus dem Lager zu befreien – mit Erfolg: Im April 1941 wurde er, mittlerweile schwer erkrankt, in eine Maison de retraite verlegt, im Oktober desselben Jahres durfte er gemeinsam mit seiner Schwester in die Schweiz ausreisen. Bereits ein halbes Jahr später, am 8. April 1942, ist Mombert in der Villa des Verlegers und Freundes Hans Reinhart in Winterthur gestorben; im Park der Villa ist er begraben. Noch im Lager hatte er unter widrigsten Umständen am zweiten Teil seines Hauptwerkes Sfaira der Alte weitergearbeitet, der kurz vor seinem Tode als Privatdruck erscheinen konnte.
Nach dem Krieg bemühten sich Benz und Carossa um Momberts Werk. Im Jahre 1958 erschienen endlich beide Teile des Mythos – so der Untertitel – Sfaira der Alte in einem Band bei Lambert Schneider in Heidelberg, 1963 kam eine dreibändige Gesamtausgabe bei Kösel in München heraus. Im Frühjahr 1967 veranstaltete die Badische Landesbibliothek eine Ausstellung aus Anlass von Momberts 25. Todestag. Doch danach wurde es still um ihn – die literarischen Themen und Formen hatten sich geändert, Momberts Werke wirkten wie aus der Zeit gefallen. Heute ist der visionäre Dichter, der sich keiner literarischen Richtung zuordnen lässt, weithin vergessen.
Das liegt zum Teil daran, dass er als Jude jener „verlorenen Generation“ angehörte, die am Ende ihres Lebens um jede Wirkung gebracht wurde. Es liegt auch an dem Traditionsabbruch, den die Nazizeit für das geistige Leben in Deutschland bedeutet und der es unwiederbringlich geschädigt hat. Es liegt aber auch an der Selbststilisierung des Dichters als spiritueller Seher, dem kein anderes Leben eignet als das seiner Visionen. Vor allem jedoch liegt es am esoterischen Charakter von Momberts Werk selbst, an seinem Intuitionismus, an seiner mythischen Kosmologie, an seinem Anspruch auf unbedingte geistige Führung – begründet in einer Art Offenbarung. Fritz Usinger schreibt im Ausstellungskatalog von 1967: „Alfred Mombert hatte nämlich eine außerordentliche Entdeckung gemacht, eine Jahrtausend-Entdeckung, die ihn aus allen gewohnten Denk- und Gefühlskategorien herausrückte. Er hatte als erster in einer plötzlichen Eröffnung des Gefühls die Existenz des Kosmos erfahren und zwar als eine Existenz, die uns ganz nahe, bis auf die Haut nahe gerückt ist. Er hatte als erster die Welt nicht nur tellurisch, sondern als ein planetarisches Ereignis erlebt.“ Ist es Zufall, dass wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt einst Bunsen und Kirchhoff die Chemie des Weltalls erschlossen hatten?
Mombert sah sich in der Tradition Hölderlins und Nietzsches. Wenn man in seiner Epoche ähnliche Naturelle sucht, muss man wohl an Rilke, an Stefan George oder an die Schwabinger Kosmiker um Ludwig Klages und Karl Wolfskehl denken. Aber kein Vergleich trifft. So wird er wohl einsam bleiben und fern, jener Dichter, wie Sfaira, sein alter ego: „Sfaira-Gestalt Ich: unnahbare Sage.“ Doch wer den Friesenberg hinaufsteigt an des Dichters einstiger Wohnung vorbei über dunklen Pfad zum efeubewachsenen Schlossberg, der kann es, wenn er den Sinn dazu hat, vielleicht raunen hören: „Einmal noch kehre ich ein / bei den Lerchen an Ufern des Rheins; / in die dunkel-treue Efeu-Wildnis, / drin zu Zeiten nistete der Orion-Sänger / und dann niemehr! –“
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