Der Vorgang um den Sänger Gil Ofarim und ein Leipziger Hotel, das ihm seinen Aussagen zufolge den Zugang erschwerte, weil er einen Davidstern an einer Kette getragen habe, erinnert mich an ein Geschehen, das ich 2004 in mein „Deutsches Panoptikum“ (bisher unveröffentlicht) aufnahm.
Für den 34 Jahre alten Stefan W. beginnt die letzte Nacht in New York mit Regen und Matsch. Er und zwei seiner deutschen Kollegen beschließen, ihre lang geplante und nun zu Ende gehende Amerikareise bei „Iggy’s“ zu beenden. „Iggy’s“ ist ein Tipp Joshuas, eines Juden, den die drei Deutschen vor ein paar Tagen kennengelernt haben. „Iggy’s“ ist eine Karaoke-Bar an der Upper East Side.
Dorothy St. ist eine dralle Blondine, die auf der Bühne hinter der Bar Janis Joplin und AC/DC singt. Take another piece of my heart. Dorothy trägt in ihrem Dekolleté einen glitzernden Davidstern. Sie ist keine Jüdin, der Stern gefiel ihr einfach. Den Anhänger hat sie für 2000 Dollar in New Jersey gekauft. Die junge Frau ist in Deutschland als Masseuse von Prominenten bekannt; in New York kennt sie niemand.
Als sie die Bar verlassen will, greift sie nach ihrer Lederjacke, die über dem Hocker hängt, auf dem Stefan W. sitzt. Darüber, was dann geschah, herrscht Unklarheit.
Dorothy gibt zu Protokoll, dass der junge Mann sie zu einem Drink eingeladen und sie abgelehnt habe. Daraufhin habe er sie angemotzt: Ob sie Jüdin sein, warum sie einen Judenstern trage? Er habe an ihre Nase gefasst und gefragt, ob sie sicher sei, keine Judensau zu sein?
Was für eine Kette? fragt Stefan W. Er könne sich an die Kette nicht erinnern. Die Frau hätte ihn und seine Freunde als geizige deutsche Männer, die Schweine seien, beschimpft. Dann habe die Frau zu- und er aus Notwehr zurückgeschlagen.
Das Verschwommen-Geschehene, das Unklar-Gewesene wäre im feuchten Grau der New Yorker Nacht versickert, wäre nicht die Interpretation der Dorothy St. in die Öffentlichkeit gelangt. Sie erzählt ihre Geschichte einem Bekannten in Deutschland, der gibt sie an die Medien weiter. In Zeitungen erscheinen Berichte von einem „antisemitischen Zwischenfall in New York“. Drei junge Deutsche aus Frankfurt an der Oder hätten die Prominenten-Masseuse provoziert und geschlagen.
Die Halbprominente mailt ein Foto von sich nach Deutschland: Sie mit geschwollener Lippe, blauem Auge und der Kette mit dem Davidstern.
Ein Sprecher der Stadtverwaltung von Frankfurt/Oder (eine Stadt, die mit dem Image einer Stadt weit im Osten, wo die Neonazis hausen, nicht leben will) schickt eine Anfrage an das Auswärtige Amt mit der Bitte um Aufklärung. Die wendet sich an das Konsulat in New York, das Konsulat wendet sich an die Polizei. Von einem antisemitischen Zwischenfall sei nichts bekannt, allerdings habe es einen Streit in einer Bar gegeben. Der junge Mann, um den es sich handelt, sitze in Untersuchungshaft.
Stefan W., Lippe aufgeplatzt, Auge geschwollen, Brille zerstört, erfährt durch den Besuch einer Dolmetscherin und einer Pflichtanwältin, dass er in Deutschland als Neonazi aus dem Brandenburgischen Schlagzeilen macht. Während der Fünf-Minuten-Verhandlung, die es der New Yorker Justiz erlaubt, Straftäter möglichst schnell zu verurteilen, fällt das Wort Jewish Swine.
Die hellhörige Staatsanwältin beantragt die Verschärfung der Klage. Es sei ein Fall von hate crime. Für einen Überfall aus Hass kann jemand mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden.
Während Stefan W. auf Kaution freigelassen wird, in einem Hotel übernachten muss – seine Kollegen lassen ihm 300 Dollar da und fliegen zurück; während der jüdische Mann Joshua ihn über Silvester ein paar Nächte bei sich unterbringt; während Dorothea St. mit ihrer Tochter Weihnachten in New York verbringt und von der Tochter einer jüdischen Freundin erklärt bekommt, was es mit dem Davidstern auf sich hat („Ich wusste das alles überhaupt nicht“, soll Dorothy gesagt haben) – mahlen die Mühlen des Konsulats, der deutschen Medien und der Bürgermeistereien.
Schließlich verkündet die Staatsanwaltschaft von Frankfurt/Oder, man werde ein Verfahren gegen Unbekannt wegen Körperverletzung einleiten. Die deutsche Gerichtsbarkeit gelte auch, wenn Deutsche im Ausland Straftaten begehen. Die Verwaltung der Stadt Frankfurt/Oder möchte deutlich machen, dass in ihrer Stadt nicht alle so seien wie der rechte Schläger in einer New Yorker Bar.
Dorothy St. berichtet, dass sie Hass-E-Mails von Palästinensern bekomme. Sie gibt einer jüdischen Zeitung in den USA ein Interview. Auf ihrer Internet-Seite hält sie ihre Fans auf dem Laufenden und veröffentlicht den Namen des „Täters“.
Es stellt sich heraus, dass Stefan W. nicht aus Frankfurt an der Oder, sondern aus Frankfurt am Main kommt.
Dorothy St. betritt drei Wochen nach dem „antisemitischen Zwischenfall“ wieder die Karaoke-Bar „Iggy’s“. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einer Diamant-Schildkröte.
Schlagwörter: Antisemitismus, Davidstern, Eckhard Mieder, Frankfurt, New York