Kreihnsdörp kennen Sie nicht? Was hochdeutsch „Krähendorf“ bedeutet, ist der plattdeutsch-umgangssprachliche Name von Grevesmühlen. Als „Kreihnsdörp“ dürfte sich die Kleinstadt im Nordwesten Mecklenburgs laut Erlass des Infrastrukturministeriums von Mecklenburg-Vorpommern sogar zusätzlich zur amtlichen Bezeichnung am Ortseingang ausweisen, wozu man sich in Grevesmühlen allerdings offenbar noch nicht entschließen konnte. Doch immerhin, es gibt ein Kreihnsdörper Café-Stübchen, den Kreihnsdörper Markt und einen Kreihnsdörper Carnevalverein.
Selbstverständlich wurde auch eine Legende erfunden, um die Herkunft des Namens zu erklären: Den Grevesmühlener Bauern war in grauer Vorzeit beim Einfahren ihrer Ernte immer wieder Heu und Getreide vom Wagen geweht worden. Jemand wusste Rat. Man solle das Erntegut doch mit Wiesenbäumen beschweren. Gesagt – getan. Allerdings legten die Bauern die Bäume quer zur Fahrtrichtung auf ihre Wagen und scheiterten prompt beim Versuch, das neue, enge Stadttor zu durchfahren. Bevor sie daran gehen wollten, das Tor zu versetzen, kreischte eine Krähe „Scharp vöhr, Scharp vöhr“ (scharf vor), was in plattdeutscher Krähensprache heißen sollte, dass man einen Baum doch besser mit dem „scharfen“ Ende voran, also längs, auf den Wagen lege. Seither wird die Krähe, die ohnehin zu den intelligentesten Vögeln gehört, auch in Grevesmühlen als kluges Tier verehrt.
„Krähendorf“ ist mitnichten als „Krähwinkel“ zu verstehen. Schließlich war Grevesmühlen vormals Kreisstadt. „Westlichste Kreisstadt im Bezirk Rostock“, hieß es im Heimatkunde-Unterricht. Ihren Status bewahrte die Stadt auch, als der Bezirk Rostock 1990 im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern aufging. Mit der Gebietsreform von 2011 und der Bildung des Großkreises Nordwestmecklenburg jedoch musste der Titel an das nahe, größere, zuvor kreisfreie Wismar abgetreten werden. Ein Teil der Verwaltung dieses kleinsten der sechs Landkreise von Mecklenburg-Vorpommern, der flächenmäßig dennoch fast annähernd so groß ist wie das Saarland, blieb in Grevesmühlen.
Vielleicht deshalb verfügt die Stadt heute noch über drei Rathäuser – am Rathausplatz. Wer sich durch die schmale, kopfsteingepflasterte Wismarsche Straße dem ansehnlich sanierten Zentrum nähert, erblickt auf dem Platz zur Linken zunächst das „Alte Rathaus“. 1715 erbaut, diente es bis 1994 dem namensgebenden Zweck. Später beherbergte es Hotel und Restaurant, bei unserer Stippvisite ist es jedoch geschlossen, laut Internet sogar „dauerhaft“.
Gegenüber auf dem Platz steht „Rathaus“ auch an einem zweiten Gebäude, das in den 20er Jahren des verflossenen Jahrhunderts errichtet wurde und früher zeitweilig das Finanzamt, zu anderen Zeiten die sowjetische Kommandantur behauste. Jetzt ist es tatsächlich Rathaus, aber lediglich eine Art repräsentativer Vorbau. Denn dahinter versteckt sich ein moderner Glasbau für den Großteil der Verwaltung.
Nur wenige Schritte braucht es vom Rathaus- zum Kirchplatz, auf dem sich der gedrungene Backsteinbau St. Nikolai erhebt. Daneben hat der örtliche Heimatverein einen Gedenkstein für Luise Reuter aufstellen lassen. Die Ehefrau des niederdeutschen „Nationaldichters“ Fritz Reuter wurde 1817 als Luise Kuntze in Grevesmühlen geboren. Ihr Grab fand sie indes 1894, zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes, im thüringischen Eisenach, wo sich das Paar 1863 niedergelassen hatte.
Auch etliche andere bekannte Töchter und Söhne Grevesmühlens hielt es nicht lange in der Stadt, weder in ferner noch in jüngerer Vergangenheit – weder den Kaufhausunternehmer Rudolph Karstadt noch Radprofi Jens Voigt oder Kugelstoß-Olympiasiegerin Astrid Kumbernuss.
Und dennoch: Die Einwohnerverluste der Stadt seit dem „Beitritt“ halten sich – anders als in manch anderer mecklenburgischen Gemeinde – in Grenzen. Heute zählt Grevesmühlen gut 10.000 Bewohner, nur rund 1000 weniger als vor 30 Jahren. Die Nähe zu Wismar (20 Kilometer), Lübeck (40 Kilometer) und zur Ostseeküste (15 Kilometer) macht den Ort attraktiv. Auch die Landeshauptstadt Schwerin und selbst Hamburg liegen nur einen Krähenflug entfernt.
Seit 2005 nennt sich Grevesmühlen überdies sommers, wenigstens heimlich, „Piratenhauptstadt“. Denn am Stadtrand hat das „Piraten-Open-Air“ seine Kulissen aufgebaut. Sogar ein See wurde angelegt, um einen Hauch von karibischem Flair zu schaffen. 60.000 Besucher zählte das Freilufttheater in guten Jahren zwischen Mitte Juni und Anfang September. Nachdem das Spektakel im vergangenen Jahr dem Virus zum Opfer gefallen war, lassen es die Piraten „auf der Suche nach Ruhm, Glück, Reichtum und Freiheit“ seit 23. Juli dieses Jahres wieder krachen. Im wahren Sinn des Wortes: Freunde des Hauens und Stechens, des Böllerns und Qualmens, des Prügelns und Fluchens kommen in der 16. Episode aus dem Leben des Käpt’n Joshua Flint, seiner Kumpane und Rivalen durchaus auf ihre Kosten. „Ein Königreich vor dem Wind“ ist der Titel des Stückes, zu dessen 60 Darstellern Anouschka Renzi und Dustin Semmelrogge gehören. Als literarische Grundlage diente wie in den Vorjahren Robert Louis Stevensons Roman „Die Schatzinsel“. Allerdings prasselte bei unserem Besuch heftiger Regen auf Zuschauer und Darsteller nieder, fast hätte er den Schlussapplaus übertönt. Wenigstens hatten Anwohner diesmal kaum einen Grund, sich über Lärmbelästigung zu beklagen, wie es wohl schon vorgekommen ist. Es war ohnehin kein Wetter zum gemütlichen Grillen im Kleingarten.
Vorstellungen noch bis 18. September.
Schlagwörter: Achim Höger, Freilufttheater, Grevesmühlen, Kreihnsdörp, Luise Reuter, Piraten-Open-Air