Mahn-, Gedenk- und Erinnerungsstätten der Arbeiterbewegung in Berlin-Pankow“ – so lautet der Titel einer 72-seitigen Broschüre aus dem Jahr 1972. Der Autor Hans Maur listet darin 47 Orte mit Straße und Hausnummer auf, an denen sich solche Gedenkorte befinden. Wilhelmsruh ist mit acht nicht vergessen worden. Aber wie sehen diese Tafeln und Erinnerungsstätten heute aus? Ein kleiner Streifzug durch Pankows kleinsten Ortsteil reicht zur Feststellung der Fakten. Alle von Maur aufgeführten Gedenktafeln sind verschwunden. Über den Verbleib der Tafeln ist wenig oder nur Spekulatives bekannt. Die betreffenden Häuser erhielten nach 1990 meist eine neue Fassade, Eigentümer wechselten.
Aber der vom Bildhauer Erwin Damerow (1906–1978) geschaffene Gedenkstein für die ermordeten Antifaschisten im kleinen Schmuckpark an der Hauptstraße zwischen Schillerstraße und Goethestraße existiert noch. Unter schönen großen Platanen liegt an seinem Fuß am 8. Mai, am Tag der Befreiung vom Faschismus, gelegentlich eine rote Rose. Mit einer alten Rasenfläche nahe der „Kaisereiche“ und schmuddeligen Bänken wirkt die Umgebung der Gedenkstätte eher ungepflegt. Der Gedenkstein erinnert namentlich an Antifaschisten aus Wilhelmsruh. Auf der Rückseite des Steines sind unter der Überschrift „WIR GEDENKEN DEN ERMORDETEN AUS WILHELMSRUH“ die Namen, die Geburts- und Sterbedaten eingearbeitet, darunter die von Willi Hielscher (1904–1945), Anna Reinicke (1903–1945), Ernst Rexin (1883–1943) und Fritz Wöhrer (1901–1944).
Der Schneider Willi Hielscher war Arbeitersportler und im Widerstand der KPD gegen den Nationalsozialismus aktiv. Während des Zweiten Weltkriegs kümmerte er sich mit seinen Freunden um sowjetische Zwangsarbeiter im Kriegsgefangenenlager Wilhelmsruh, die in der Rüstungsindustrie bei der Firma Bergmann arbeiteten. Er organisierte Lebensmittel, Kleidung und verhalf zusammen mit Arthur Magnor dem russischen Zwangsarbeiter Grigorij Wassiljew zur Flucht. Er gehörte der KPD-Gruppe von Anton Saefkow und Franz Jacob an. Am 30. August 1944 wurden Hielscher und einige russische Zwangsarbeiter verhaftet und schwer misshandelt. Er versuchte vergeblich, durch einen Sprung aus dem Fenster zu entkommen. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 16. November 1944 zum Tode. Er wurde am 8. Januar 1945 in Brandenburg hingerichtet. Zur Erinnerung an das Barackenlager für Zwangsarbeiter befindet sich in der Lessingstraße in Wilhelmsruh eine Gedenktafel.
Anna Reinicke wurde zusammen mit ihrem Mann verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Dort starb sie am 27. Januar 1945 an den Strapazen und Misshandlungen. Ihr Mann Richard gehörte zur Widerstandsgruppe Robert Uhrig. Seine Organisation bestand aus einem Netz verschiedener kommunistischer Widerstandsgruppen, die in Berliner Betrieben eingesetzt waren. Anna Reinicke half ihrem Mann bei der illegalen Arbeit. Sie vermittelte Treffpunkte, bewahrte für die Organisation wichtige Dokumente auf, half beim Verbreiten von Material. Ihr Mann konnte auf einem Todesmarsch von US-Truppen befreit werden.
Der Schlosser Ernst Rexin arbeitete in der Maschinenfabrik Prometheus in Reinickendorf-Ost. Gewerkschaftlich engagierte er sich im Metallarbeiterverband und in der Revolutionären Gewerkschaftsorganisation (RGO). Parteipolitisch kam er von der USPD zur KPD. Am 10. Oktober 1936 wurde er zusammen mit vielen anderen verhaftet und zur Untersuchungshaft in das Gefängnis Berlin-Lehrter Straße gebracht. Unter der politischen Leitung von Fritz Wöhrer hatten die Angeklagten versucht, bei der Firma Prometheus eine kommunistische Betriebszelle aufzubauen. Ihre Aufgaben bestanden darin, Mitglieder zu werben, Zeitschriften wie Die Rote Sturmfahne des Nordens zu verteilen und kleine Sammlungen durchzuführen. Ernst Rexin und seine Mitangeklagten wurden am 9. Dezember 1937 wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens vom 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin verurteilt. Rexin erhielt dreieinhalb Jahre Zuchthaus. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wird vermerkt, dass Ernst Rexin am 6. November 1943 als „Moorsoldat“ in einem Moorlager im Emsland ums Leben kam.
Der Schlosser Fritz Wöhrer war ebenfalls Mitglied der KPD, er wurde 1933 erstmals verhaftet. Nach seiner Entlassung war er weiter im Widerstand aktiv, und aufgrund seiner vermeintlich „hochverräterischen Umtriebe“ nahm man ihn mehrfach fest. Sein elfjähriger Leidensweg führte ihn in das Konzentrationslager Esterwegen, in das Zuchthaus Luckau und nach Großbeeren, wo er am 12. Mai 1944 an Hungertyphus im Arbeitserziehungslager verstarb.
Und wie ehrt Wilhelmsruh heute diese ermordeten Widerstandskämpfer?
In der Schillerstraße 49 befindet sich die „Rote Schule“. Die 9. Polytechnische Oberschule trug bis 1991 den Namen Willi Hielschers. Schüler der Willi-Hielscher-Oberschule und der Schule der Solidarität aus der Lessingstraße in Pankow hatten sich in den 1970er Jahren verpflichtet, die Mahn- und Gedenkstätten ihrer Umgebung zu pflegen. Das funktionierte ebenso wie die jährlichen Appelle an der Gedenkstätte. Das Denkmal für die Opfer des Faschismus gehörte dazu. Die „Rote Schule“ ist jetzt Kinderhort und Mehrgenerationenhaus. An den Namen Hielscher erinnert heute dort nur noch eine im Haus befindliche Büste, ebenfalls vom Bildhauer Damerow, von dessen Existenz wenige wissen. Viele kennen die dargestellte Person nicht.
Auf dem Gelände des heutigen Gewerbeparks – dem PankowPark (ehemals Bergmann-Borsig) – ist auch noch eine Gedenktafel zu finden. Diese Tafel erinnert an Karl Liebknecht. Er hatte in den Tagen der Novemberrevolution 1918 am Werk vor Arbeitern zum Kampf gegen Militarismus und für Sozialisierung aufgerufen.
Die Erinnerungskultur ist trotz der Bilanz von verschwundenen Gedenktafeln nicht ausgelöscht. An einem regnerischen Dienstag, am 5. Dezember 2018, kam in Wilhelmsruh Bewegung in die Sache. Auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnstätten wurden nach entsprechenden Initiativen durch den Aktionskünstler Gunter Demnig „Stolpersteine“ gesetzt. In der Sachsenstraße (heute Niederschönhausen) für Fritz Wöhrer, in der Hielscherstraße für Ernst Rexin und in der Schillerstraße für Anna Reinicke. Mit kurzen ergreifenden Ansprachen und musikalischer Umrahmung wurde der Toten gedacht.
Für Anna Reinecke gab es in Wilhelmsruh eine weitere Wertschätzung. Am 2. August 2019 wurde am ehemaligen Wohnort in der Schillerstraße 50 (ehemals Nr. 13) durch den Bürgermeister von Pankow Sören Benn eine neue Gedenktafel eingeweiht.
Schlagwörter: Antifaschisten, Berlin-Wilhelmsruh, Erinnerungskultur, Harald Bröer, Widerstand gegen den Nationalsozialismus