Die Berliner Schriftstellerin Helga Schubert wurde im vergangenen Jahr mit dem renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Späte Ehrung für eine Achtzigjährige. Der Wettbewerb hatte wegen der Corona-Pandemie virtuell stattgefunden. Mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ – eine berührende Mutter-Tochter-Geschichte – überzeugte Schubert die Jury. Sie erzählte darin über die Lebenserfahrungen einer Tochter mit ihrer vom Weltkrieg geprägten Mutter, die sich als Kriegerwitwe durchs Leben schlagen musste.
Nun hat der Deutsche Taschenbuch Verlag die preisgekrönte Geschichte zusammen mit 28 anderen, unterschiedlich langen Erzählungen veröffentlicht. Die meisten entstanden vor der Bachmann-Auszeichnung. In gewohnt klarer und poetischer Sprache zeichnet Schubert ein knappes Jahrhundert deutscher Alltagsgeschichte. Wie der Untertitel der Neuerscheinung – „Ein Leben in Geschichten“ – verrät, erzählt Schubert aus ihrem eigenen bewegten Leben. 1940 wurde sie in Berlin geboren. Ein Jahr später fiel der Vater an der Ostfront. Aufgewachsen als Nachkriegskind in Ost-Berlin, studierte Schubert von 1958 bis 1963 an der Humboldt-Universität Psychologie und war nach dem Abschluss als klinische Psychologin tätig. Bereits in den 60er Jahren begann sie zu schreiben – vor allem Kinderbücher und Prosatexte, aber auch Theaterstücke sowie Hör- und Fernsehspiele. In der Wendezeit war sie Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches, danach zog sich Schubert weitgehend aus der literarischen Öffentlichkeit zurück.
Jetzt ist sie zurückgekehrt. In der Auftaktgeschichte „Mein idealer Ort“ erinnert sie an ihre Großmutter, bei der sie stets die Sommerferien verbrachte. Am 9. November 1989 war das „Kind der deutschen Teilung“ fast fünfzig Jahre alt. In dem Text „Keine Angst“ schildert die Autorin ihre Erlebnisse während dieser geschichtsträchtigen Tage; gleichzeitig reflektiert sie ihre Schriftstellerkarriere in der DDR: „Sie ließen mich beobachten, fanden mich feindlich-negativ, und sie ließen mich trotzdem in den Westen reisen: Ein unglaubliches Privileg.“ Noch 2008 wurde sie von einem (west)deutschen Literaturprofessor gefragt, ob sie sich seinerzeit als „DDR-Schriftstellerin“ verstanden habe. Nein – so ihre Antwort – sie war zufällig eine Ostberliner deutsche Schriftstellerin. („Die DDR ist wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd – man hat sie lebenslang.“)
Für Schubert ist das Schreiben ein „Sammeln von Schicksalen“. So sind ihre Geschichten ein Spiegel, in den sie – wie im längsten Text „Eine Wahlverwandtschaft“ – auf die Geschichte ihrer Familie, von den Großeltern in Hinterpommern bis zu ihrer Urenkelin, zurückblickt. Auch Betrachtungen über das eigene Altwerden oder Altgewordensein finden sich immer wieder. Den Abschluss bildet die preisgekrönte Titelgeschichte „Vom Aufstehen“, in der sich Schubert nicht nur mit dem jahrelang komplizierten Verhältnis zu ihrer überhundertjährigen Mutter auseinandersetzt, sondern auch von der Pflege ihres schwerkranken Mannes berichtet.
In den 29 Miniaturen mit autobiografischem Charakter werden Lebenserfahrungen und Zeitgeschichte unpathetisch, kritisch und doch nachsichtig unter die Lupe genommen. Obwohl in der Ich-Form geschrieben, geraten die Texte nicht zur Nabelschau. Helga Schubert erzählt mit dem Ernst einer nachdenklichen Zeitgenossin in einer eigenartigen Mischung von Zartheit, Humor, Rücksicht und Wahrheitsliebe. Ihr dabei zu folgen – und vielleicht die eigene Geschichte zu reflektieren – ist ein Vergnügen.
Helga Schubert: Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2021, 224 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Helga Schubert, Manfred Orlick