Der Hintergrund: Walter Romberg war der letzte Finanzminister der DDR. Auf Geheiß Helmut Kohls wurde er im Sommer 1990 aus der Ostberliner Regierung geworfen: offiziell wegen „Unfähigkeit“, tatsächlich aber wohl, weil seiner Schätzung nach die „Kosten der Einheit“ deutlich höher sein würden, als von der bundesdeutschen Führung fälschlicherweise behauptet. Realismus ist riskant.
Als Mathematiker von Graden hatte Romberg viele Jahre lang die Redaktion des „Zentralblattes für Mathematik“ der DDR geleitet, einer international angesehenen Fachzeitschrift. Er stammte aus Mecklenburg, war bis zur Schmerzgrenze sachlich, konnte aber dennoch lachen.
Als profilierter Laie leistete er wichtige Beiträge zur Friedensarbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik. Sein Interesse an sicherheitspolitischen Fragen ließ ihn „nicht-offiziellen“ Kontakt mit der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (SAS) aufnehmen. Walter Romberg wurde deren einziges Mitglied in der DDR: sozusagen „im Untergrund“.
Ihn hatte der Ansatz überzeugt, durch eine Strukturreform der Streitkräfte in Mitteleuropa, durch eine „Umrüstung“ auf eine vertrauensbildende Defensive, Spielräume für die Abrüstung zu schaffen. Ebenfalls sah er unilaterale Maßnahmen in dieser Richtung als sinnvoll an, um einen Prozess reziproker Schritte der Konfliktparteien auszulösen.
So machte er sich mit Verbissenheit und Akribie an das Sammeln militärpolitisch relevanter Daten aus allen nur denkbaren Quellen (wurde zu einem „Ein-Mann-Geheimdienst“), um auf dieser Basis den SAS-Denkansatz in ein sehr konkretes Modell wechselseitiger Um-und Abrüstung für Mitteleuropa zu transformieren.
Zudem brachte er es fertig, bei den SED-Oberen, für sich, den DDR-loyalen Vorzeigechristen und Friedenspolitiker, sowie sogar auch für mich, den SAS-Vorsitzenden, Einladungen zu einer zweitägigen internationalen Fachkonferenz im bulgarischen Varna zu erwirken, die unter dem Motto „European Security and Non-Offensive Defence“ stand (hatte sich doch damals in den einschlägigen Kreisen herumgesprochen, dass die „Offensivität“ der internationalen Stabilität entgegenstand […].
Ein schräges Abenteuer: Am 18. Oktober 1987 flogen wir beide, als Mitglieder der DDR-Delegation, nach Varna am Schwarzen Meer. In der Nacht und dem Tag zuvor hatten wir noch kleinere Ungereimtheiten in Walters Umrüstungsmodell ausgebügelt. Dazu gab es frisches Graubrot, Thüringer Leberwurst (geräuchert) und einen Kasten Berliner Pilsner.
Der DDR-Delegation gehörten außer uns noch an: Professor Manfred Müller von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der gelegentlich dem Genossen Honecker Entwürfe für außenpolitische Reden zu verfertigen hatte, Kurt Baudisch, SED-Wissenschaftsfunktionär, sowie ein sportlicher Stasimensch, Kumpeltyp, der sich als Redakteur eines FDGB-Blattes einführte.
Ich erinnere mich noch, dass es in der bulgarischen Tupolew 154, die übrigens mit starker Verspätung abhob, Bullaugen in den Toiletten gab – nicht zu vergessen auch einige dicke Schmeißfliegen (vulgo: Brummer).
Ansonsten fiel auf, dass nur sehr wenige andere, entfernt platzierte Passagiere mit uns flogen und dass eine der bäuerlich robusten Stewardessen ihre Ellbogen offenbar seit längerer Zeit nicht gewaschen hatte.
Die in angenehmem Ambiente verlaufende Konferenz (wir bekamen, 18 Monate nach Tschernobyl, viel radioaktiven Schafskäse zu essen) wies eine klare Asymmetrie auf: Nicht nur war die Teilnehmerschaft aus dem Osten zahlreicher als die aus dem Westen, sondern auch eindeutig höheren Ranges.
Während aus dem Westen, insbesondere den Niederlanden, Großbritannien und der Bundesrepublik, universitäre Friedensforscherinnen angereist waren (wobei ich etwas aus dem Rahmen fiel), präsentierte sich der Osten zwar ebenfalls mit Wissenschaftlern, aber zum überwiegenden Anteil solchen, die in Beratungsfunktionen den Mächtigen sehr nahe waren. Neben Müller etwa zu nennen: ein Beraterkollektiv des Kremls und ein – später als KGB-Agent enttarnter – enger Vertrauter von General Wojciech Jaruzelski, des damaligen polnischen Staatspräsidenten.
Die Konferenz erwies sich als Plattform der Platitüden. Gegenseitiges Verständnis wurde beteuert und immer wieder die Formel vom „Gemeinsamen Haus Europa“ bemüht. Auch gab es Vorschläge, welche zusätzlichen Felder Gegenstand von Abrüstungsverhandlungen werden sollten. Ganz nach dem Motto: Wer will noch mal, wer hat noch nicht?
Konkret wurde es jedenfalls nicht. Auch mein Vortrag verzichtete auf die Diskussion detaillierter Lösungen. Ich suchte die Grundlinien des SAS-Ansatzes herauszuarbeiten – als Vorbereitung des Modellvorschlages von Walter Romberg, der dann gegen Ende der Konferenz die Bombe platzen ließ.
Walters Bombe: Es war eine lautlose Detonation. Die meisten Teilnehmerinnen verstanden ohnehin nur Bahnhof. Manche aber, die sehr wohl verstanden hatten, dachten, sie wären „auf der falschen Party“. Insbesondere in den Mienen der höherrangigen Vertreter der Länder des Warschauer Paktes spiegelte sich eine Mischung aus irritiertem Staunen und gelinder Empörung: „Wie kann ein Bürger der DDR, der dem Machtzentrum in keiner Weise nahe ist, Kenntnisse haben, die nicht einmal ein General der Nationalen Volksarmee besitzt?“
Walters Präsentation wurde nicht diskutiert (wenn einmal von ein paar freundlichen Informationsfragen westlicher Teilnehmer abgesehen wird). Eine Diskussion war ihm aber auch nicht so wichtig.
Es ging Walter Romberg vor allem darum, dass sein Vorschlag die Fachöffentlichkeit des Warschauer Paktes erreichte, gleichsam in den Akten verzeichnet wurde, und er unbehelligt weiterarbeiten konnte. Das war ihm gelungen.
Er durfte seinen Konferenzbeitrag, in verkürzter Fassung, sogar in einem englischsprachigen Propagandablättchen publizieren, das von Baudisch betreut wurde: „Towards non-offensive defence through unilateral, limited and reciprocated reductions: On a gradualististic approach to military crisis stability in Central Europe“, in: World Federation of Scientific Workers (ed.), European Security and Non-Offensive Defence, Berlin (East) 1988.
Obwohl in der DDR nun als eigenständiger sicherheitspolitischer Denker etabliert, blieb Walter Romberg dort isoliert. Man wartete auf Befehle aus Moskau.
Als sich Moskau dann Ende 1988 erklärte, gemeint ist Gorbatschows Rede vor der UN-Generalversammlung mit der Annoncierung unilateraler Schritte der Um- und Abrüstung, freute Romberg sich, darin Elemente seines Modells erkennen zu können.
Dieser und der vorstehende Beitrag wurden – integriert und in stark verkürzter Fassung – in den USA veröffentlicht: „Pleasant Lunches: Western Track Two Influences on Gorbachev’s Conventional Forces Initiative of 1988“, Project on Defense Alternatives, November 2018. […]
Nachtrag 1: Mein Freund Walter starb am 23. Mai 2014 in Teltow bei Berlin. Zur Trauerfeier erschienen der frühere Ministerpräsident Hans Modrow und etliche PDS-Mitglieder seines Kabinetts, dem Walter Romberg, der wesentlichen Anteil an der Neugründung der Sozialdemokratie in der DDR hatte, als Minister ohne Geschäftsbereich diente (bevor er dann in der nachfolgenden Regierung mit ungutem Ausgang Finanzminister wurde).
Offizielle Vertreter der SPD waren nicht erschienen. Renate, Walters Witwe, erhielt einen Kondolenzbrief, den der Ministerpräsident Brandenburgs, ich habe seinen Namen vergessen, unterzeichnet hatte: offenbar das jämmerlich unpersönliche Produkt eines Referenten.
Ganz anders das Schreiben einer gewissen Angela Merkel: In ihren handschriftlichen Zeilen erinnert sie sich der gemeinsamen Zeit mit dem Kollegen Walter während der letzten Tage der DDR. Der Ton ist herzlich und anrührend: authentisch. Leider aber haben Renate und ich den Brief nicht in Gänze entziffern können. Er steht jedoch Schriftkundigen zwecks Deutung zur Verfügung.
Nachtrag 2: Einige Jahre nach dem Tod ihres prominenten Bürgers ließ die Gemeinde Teltow eine Passage, die von der „geschinkelten“ Kirche in der Ortsmitte zum Kanal führt, neu gestalten und als „Dr.-Walter-Romberg-Steig“ ausweisen.
Nach dieser guten Tat sah sich der sozialdemokratische Bürgermeister vor dem Problem, seinen Bürgern und etwaigen Touristen, die es nach Teltow verschlägt, zu erklären, wer denn Walter Romberg eigentlich gewesen ist: ging doch dessen Medienpräsenz gegen Null.
So erreichte mich auf Umwegen das Ansinnen, den Text für ein Info-Blättchen über Walter zu entwerfen. Dies geschah, ohne dass sich danach die Absicht erkennen ließ, den Entwurf konkret umzusetzen – obwohl die Bedeutung des Vorhabens immer wieder betont wurde.
Nach weiteren Jahren gab es dann doch ein Resultat: In dem Text erscheint Walter Romberg als Politiker, der in der Zeit des Anschlusses sich mühte, die Interessen der DDR-Bürger zu wahren, sowie als „Friedensdenker“: wobei völlig im Unklaren bleibt, worin denn seine „Friedensdenke“ bestand. Auch nur der Anflug von Konkretion war aus dem Entwurf herausoperiert worden. Warum sollen wir uns seiner überhaupt erinnern?
Entnommen aus Lutz Unterseher: Diesseitiges, Jenseitiges, Abseitiges, Lit Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2021, 87 Seiten, 17,90 Euro.
Schlagwörter: Lutz Unterseher, Walter Romberg