24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Modis Sturm auf die letzten Bastionen

von Edgar Benkwitz

Die machthungrige Indische Nationale Volkspartei (BJP) unter Premierminister Narendra Modi setzt zum Sturm auf die beiden letzten großen säkularen Bastionen im föderalen Gefüge Indiens an: auf die Unionsstaaten Westbengalen und Tamilnadu, die sich bisher dem Zugriff der hindunationalistischen Partei verweigert haben. Das soll sich ändern, denn in beiden Staaten finden in diesem Jahr Wahlen statt.

Besonders das traditionsreiche Westbengalen mit seinen nahezu 100 Millionen Einwohnern steht im Blickpunkt. Jahrzehntelang hat es sich der politischen Herrschaft einer gesamtnationalen, auch in Neu Delhi dominierenden Partei entzogen. Westbengalen geht bis heute eigene Wege, die durch historische und kulturelle Eigenheiten geprägt sind. Bereits 1977 entschieden sich die Wähler mehrheitlich für eine der kommunistischen Parteien des Landes, die – demokratisch gewählt – 34 Jahre lang die Regierung stellte. Die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) wurde erst 2011 von einer starken regionalen Partei abgelöst, dem Trinamool Congress (TMC), einer Abspaltung der Kongresspartei. Rechtsgerichtete Parteien, noch dazu mit hindunationalistischer Ausrichtung, waren immer nur Randerscheinungen. Indische Verfassungswerte wie Säkularismus, Toleranz und Weltoffenheit gehören zu den Selbstverständlichkeiten im öffentlichen Leben.

Doch seit einigen Jahren bemüht sich die BJP von Premierminister Modi, ihre Macht auf Westbengalen auszuweiten. Wie alle nationalistischen Parteien denkt und handelt sie langfristig. Mit Unterstützung der berüchtigten RSS, Kaderorganisation und ideologische Vorhut der hindunationalistischen Bewegung, entstand im ganzen Land ein Netzwerk von Stützpunkten, von denen aus systematisch Propaganda betrieben und der politische Gegner bearbeitet wird. Der Trinamool Congress mit seiner Regierung soll sturmreif geschossen werden. Und Westbengalens Ministerpräsidentin Mamata Banerjee zeigt Nerven. Sie hat ihre Partei nicht mehr wie gewohnt im Griff, zwei Minister sowie prominente Abgeordnete sind zur BJP übergelaufen. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft und der Korruption macht der Partei vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und sozialer Probleme zu schaffen.

70 Prozent der Bevölkerung Westbengalens sind zwar hindugläubig, doch der extreme Hindunationalismus, wie ihn BJP-Anhänger in anderen Unionsstaaten betreiben, stößt hier auf Ablehnung. So bedient man sich anderer Mittel, zu denen auch das geschickte Werben um die muslimische Wählerschaft gehört. Muslime stellen immerhin 27 Prozent der Bevölkerung. Auffällig ist eine plötzliche Hinwendung Premier Modis zu dieser Religionsgemeinschaft. Dazu gehören die ausführliche Würdigung der altehrwürdigen Muslim-Universität in Aligarh aus Anlass ihres einhundertjährigen Bestehens und eine mit großem Pathos vorgetragene Gedenkrede im Oberhaus für einen verstorbenen, verdienstvollen Abgeordneten muslimischen Glaubens. Dieses bisher ungewohnte Engagement Modis ließ die Öffentlichkeit aufhorchen.

Bei ihrem Bemühen um Einfluss hat die BJP in den letzten Jahren stetig Boden gewonnen. Einen großen Erfolg feierte sie bei den indischen Parlamentswahlen vor nahezu zwei Jahren. Fast aus dem Nichts gewann sie 18 von 42 in Westbengalen zu vergebenden Sitzen. Allerdings setzte die BJP damals auf gesamtnationale Fragen und patriotische Gefühle, die Premierminister Modi als Zugpferd im Wahlkampf überzeugend angesprochen hatte.

Einen besonderen Akzent erhält das Ringen um die politische Vorherrschaft in Westbengalen durch die starke Antipathie zwischen Narendra Modi und Mamata Banerjee. Frau Banerjee, 66 Jahre, nicht verheiratet, hat eine lange politische Karriere hinter sich. Bereits mit 15 Jahren begann ihr Aufstieg in der Kongresspartei, später bekleidete sie verschiedene Ministerämter in Neu Delhi. Doch 1997 verließ sie die Partei und gründete den All India Trinamool Congress (TMC), den sie zur stärksten Kraft Westbengalens ausbaute. Ihren größten Triumph feierte sie 2011, als sie mit einem Erdrutschsieg die langjährige Herrschaft der CPI (M) beendete.

Frau Banerjee legt seit jeher einen ausgeprägten Antikommunismus an den Tag, der bis ins Lächerliche reicht. So ließ sie in Kolkata (Kalkutta) alle roten Flächen blau überstreichen, der Farbe ihrer Partei. Auch verbot sie Eheschließungen von Parteimitgliedern mit Kommunisten. Schon als junge Politikerin hatte sie auf dem Auto eines ungeliebten Oppositionspolitikers getanzt und im indischen Unterhaus zerrte sie einen politischen Gegner am Hemdkragen aus dem Saal, damit er nicht gegen ein Gesetz für Frauenrechte stimmen konnte. Mamata Banerjee war und ist jedoch bei der Bevölkerung beliebt. Dazu tragen ihr Auftreten gegen Neu Delhi, der Einsatz für die Rechte der Armen und vor allem ihre einfache Lebensweise bei. Ehrfurchtsvoll wird sie von vielen „Didi“ – große Schwester – genannt. Im Jahr 2012 reihte sie das Times-Magazin in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten weltweit ein. Durch Impfkampagnen hatte sie die Kinderlähmung in ihrem Unionsstaat ausgerottet, wofür ihr Bill Gates persönlich gratulierte. Der wahre Grund für die Listung dürfte aber der Wahlerfolg gegen die Kommunisten gewesen sein.

Ihr Trinamool Congress beteiligte sich kurzzeitig auch an einer BJP-Regierung in Neu Delhi, in der Frau Banerjee wiederum Ministerämter bekleidete. Doch das Zweckbündnis hielt nicht lange. Seit der Trennung lässt Mamata Banerjee keine Gelegenheit aus, sich gegen politische Maßnahmen der Unionsregierung zu stellen. So unterstützt sie zurzeit die Bauernproteste gegen die neue Agrargesetzgebung. Neue Bürgerschaftsgesetze, die auf eine Ausgrenzung der Muslime gerichtet sind, will sie in ihrem Staat nicht einführen.

Narendra Modi wiederum lässt sich neuerdings sehr oft in Westbengalen sehen. Mit seinem gesamtnationalen Ansehen und seinem Charisma versucht er Frau Banerjee die Show zu stehlen. Böse Zungen behaupten, der seit Kurzem üppige Gesichtsschmuck Modis, der fast das ganze Gesicht bedeckende lange Vollbart, soll an den Nationaldichter der Bengalen, Rabindranath Tagore, erinnern. Oder eher an gelehrte Gurus und würdige Sadhus, die von allen Hindus verehrt werden?

Auch ein anderer bengalischer Nationalheld, Subhas Chandra Bose, wird von der BJP für den Hindunationalismus vereinnahmt. Am 23.Januar, Boses 125.Geburtstag, dominierte die BJP mit großer Gefolgschaft aus Delhi die große Gedenkveranstaltung für den umstrittenen Freiheitskämpfer in Kolkata. Die bisherige Traditionspflegerin Mamata Banerjee sah sich brüskiert.

Obwohl die Wahlen in Westbengalen erst im April/Mai stattfinden, liefern sich die Konkurrenten bereits jetzt heftige Gefechte. Der BJP geht es ums Ganze, sie will in diesem Unionsstaat mit allen Mitteln an die Macht. Er steht der Gestaltung eines hindunationalistisch gefärbten Indiens bisher im Wege. Es geht um die Dominanz der nationalistischen Ideologie und darum, eine der schärfsten Kritikerinnen der Regierungspolitik auszuschalten.

Mamata Banerjee steht dem ziemlich hilflos gegenüber. Sie ist eine Regionalpolitikerin, die trotz verschiedener Anläufe den Sprung zu gesamtnationaler Bedeutung nicht geschafft hat. Trotz mancher Sympathiebekundungen fehlt ihr ein landesweites, solidarisches Netzwerk Gleichgesinnter. Entscheiden werden letztendlich die Wähler, doch die BJP lockt verführerisch mit Finanzmitteln aus Delhi, mit großen Infrastrukturmaßnahmen und Arbeitsplätzen. Wird Westbengalen ein weiterer hindunationalistisch regierter Unionsstaat oder können die weltoffenen und toleranten Bengalen ihre Freiräume, die mit einzigartigen Traditionen auf kulturellem Gebiet verbunden sind, behaupten?