24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Der Nachbar geht zur Friedensfahrt

von Wolfram Umlauft

Immer, wenn Krieg war, fehlte es an Brot. An Essen eben. Es war damals ein großer Krieg gewesen, und es war danach ein großer Hunger. Die Hungrigen aus der Stadt kamen mit Köfferchen voller feinster Bettwäsche zum Tausch gegen Kartoffeln. Mutter legte die kräftige Bauernhand auf den Kofferdeckel, verschloss den wäschegefüllten Koffer und gab Kartoffeln. Manchmal weinten die Beschenkten. Und alle waren sich einig: Es sollte nie wieder Krieg geben.

Aber kurz nach dem Großen Krieg gab es schon wieder Krieg. In Korea. Das lag weit fort, aber es lag in der Luft, der Große Krieg könnte sich fortsetzen, oder es könnte einen neuen Großen Krieg geben. Ich hockte neben dem Radio und weinte. Der Große Krieg hatte den Vater mitgenommen und den älteren Bruder. Wenn nun ein neuer Großer Krieg käme und nähme mir auch noch die Mutter?

Ein neuer Großer Krieg blieb aus. Dafür bestand Korea aus zwei Hälften. Eigentlich, resümierte mein Kinderverstand, bestand auch Deutschland aus zwei Hälften. Sie waren unfreundlich zueinander. Jeder Teil sollte schuld sein an diesem und jenem. Aber vom Streit allein gab es keine Kartoffeln. Die mussten gelegt werden. Von Hand. Stück für Stück. Übers lange Feld hin. Manchmal über den ganzen Tag hin. Damit die Frauen nicht wieder ihr Liebstes in Köfferchen packen mussten.

Die Kartoffeln wurden im Mai gelegt. Anfang Mai. An einem Anfang Mai war auch der Große Krieg zu Ende gegangen. Und genau in dieser Zeit gab es ein Radrennen. Das hieß Friedensfahrt. Mir war nicht ganz klar, wie man mit einem Radrennen Frieden machen kann. Aber dass es besser wäre, Sport statt Krieg zu treiben, leuchtete ein. Zumal unsere Radrenner immer wieder mal und dann immer öfter vordere Plätze belegten. Besonders ein junger Fahrer, den sie „Täve“ riefen, was immer das auch bedeutete. Die Strecke der Friedensfahrt führte oft über unsere Landstraße, eine Fernverkehrsstraße, die von Kartoffelfeldern gesäumt war.

Wer zur Fernverkehrsstraße ging, leistete sozusagen einen Offenbarungseid. Er hatte scheinbar für den Frieden etwas übrig. Deshalb war es ihm nicht zu dumm, sich an die Straße zu stellen. Allerlei Bauern allerdings, die besonders schlauen, stapften hochmütig über ihr Feld und demonstrierten so ihr Verhältnis zur neuen Welt.

Anfangs stapfte ich mit übers eigene Feld. Aus Solidarität mit Mutter, die Mühe hatte, das Abgabesoll zu erfüllen, und wir deshalb jede Minute zur Arbeit auf dem Feld und im Stall brauchten. Nach kurzer Zeit aber holten mich meine Schulfreunde rigoros vom Kartoffelacker und nahmen mich zur Rennstrecke mit. Unser kriegsheimgekehrter Feldnachbar jedoch, den wir partout nicht liebten, weil er immer krummen Rückens den Feldrain zwischen unseren Liegenschaften umackerte, um für sich mehr Nutzfläche zu schaffen, widersetzte sich noch einige Zeit der Friedensfahrt.

Allerdings kam der Mai-Tag, da der Nachbar sich scheinbar für seine oberliegenden Nachbarn zur Landstraße hin zu interessieren begann. Er kam, wie ich ihn von der Rennstrecke aus beobachtete, betont gemessenen Schrittes hangaufwärts in Richtung Landstraße, schien sich aber ausschließlich für den Stand der nachbarlichen Kartoffellege-Arbeit zu interessieren. Es sah aus, als bohre er mit seinen Blicken Löcher in die Nachbar-Erde. In Wahrheit aber, entdeckte ich, schnürte er zu unserer großen Straße hin, wo alsbald die Rennfahrer mit einem wilden Surren heranjagten – und schon vorbei waren.

„Hast du ihn gesehen?“ fragte es danach aus jeglichem Munde. „Den Täve, den Täve natürlich!“ – „Aber es waren doch so viele, und auch von unserer Mannschaft so viele.“ – „Ja“, sagte ein etwas älterer Ortsansässiger, die sind alle Täve!“

Der ungeliebte gebeugte Nachbar ging jetzt schnurgerade hangabwärts. Seine Kartoffeln warteten. In den Folgejahren ging er, wenn die Friedensfahrer angesagt waren, aufrecht zur Landstraße und zurück. Als ob ihm die Friedensfahrt geholfen hätte, als Deutscher wieder den aufrechten Gang zu üben.

Und bislang ist ein neuer Großer Krieg ausgeblieben. Mit der Mehrzahl derer, die die Friedensfahrer anfeuerten, ist auch kein richtiger Krieg zu machen.

*

Gustav Adolf Schur, genannt Täve, wird am 23. Februar 90 Jahre alt. Vor einigen Tagen kam mir zufällig mein Tagebuch in die Hände. Ganz am Anfang, als ich Schlosserlehrling wurde, war dort vor 60 Jahren geschrieben: „Ich muss von Charakter ein Mensch werden wie Täve.“ Ich habe es versucht. Es hat mir nicht geschadet. Einige Beulen wegen hartnäckiger Unverbiegbarkeit des Charakters zu verschiedenen Lebenszeiten inbegriffen.