Der Hintergrund: Ingemar Doerfer war ein Ekel und eine Tratsche. Jesusfaktor negativ. Er war neugierig, äußerst klug und wusste alles über jeden. Wenn es ihn juckte, und das geschah ziemlich oft, quatschte er: über den Nachbarn nicht nur das Beste.
Ingemar hatte eine leitende Stellung im Forschungsapparat des schwedischen Verteidigungsministeriums inne. Zur großen Erleichterung seiner Mitarbeiterinnen fuhr er oft auf internationale Konferenzen. Dort war er ein wacher Beobachter und meist stockbesoffen zugleich: eine schier monumentale Leistung.
Er trank enorme Mengen Bier und aß dazu gelegentlich Spaghetti Bolognese: ein Gericht, mit dem er sich unweigerlich – innerhalb weniger Minuten – auf das Gründlichste bekleckerte.
Ingemar war einsam. Er wurde im Februar 2009 in seiner Stockholmer Wohnung, Rädmansgatan 69, tot aufgefunden – wenige Wochen vor seinem siebzigsten Geburtstag. Er hatte einen Schlaganfall erlitten und dort schon längere Zeit gelegen: zuerst hilflos und dann tot. Der Polizeiarzt bestimmte den 22. 2. als seinen Sterbetag.
Ingemar hatte bei Henry Kissinger in Harvard promoviert. Er liebte Amerika und die Macht, die aus den Gewehrläufen kommt. Die schwedische Neutralität empfand er als unehrlich und überflüssig.
Eine solche Haltung war mir immer fremd. Doch habe ich ihn für anderes bewundert und sehr respektiert: seine gescheiten, differenzierten Analysen, etwa großer internationaler Rüstungsvorhaben, und auch dafür, dass er ganz privat recht eigenartige Literatur produzierte.
Ingemar Doerfer galt nämlich als der Tom Clancy Skandinaviens. Schrieb er doch unter dem Pseudonym Harry Winter eine Serie von spannenden Romanen über finstere Machenschaften im Kalten Krieg (Stichwort: Operation Garbo).
Ingemar war Schwedens Sonde in der Welt, jedenfalls wenn es um Rüstung, Militär und Außenpolitik ging. Er war wichtig. Aber nicht deswegen möchte ich ihm ein kleines Denkmal setzen, sondern wegen einer Geschichte, die ich mit ihm erlebt habe. Dabei besteht das Denkmal darin, dass ich die fragliche Episode einfach nur so erzähle. Es geht um unsere erste Begegnung.
Die Geschichte: Irgendwann im Frühjahr 1989 erhielt ich einen Anruf von Steve Canby: „Ingemar Doerfer kommt morgen nach Bonn (wo ich damals lebte); er wird anrufen; triff dich doch mit ihm, das wird dir was bringen!“ Ich sagte: „Jawohl Steve, wird gemacht.“
Steven L. Canby, um einiges älter als ich, war ein anregender Gesprächspartner, wenn es um Fragen der Entwicklung militärischer Konzeptionen und Technologien ging. Steve kam aus den höheren Rängen der U.S. Army und war einst, obwohl eigentlich konservativer Südstaatler, ein junger Wilder in den Debatten um die Armeereform. Wie Ingemar hatte auch er einen Harvard-Doktortitel.
Am nächsten Tag kam der angekündigte Anruf: Eine etwas quiekige Stimme fragte, ob wir uns denn wohl treffen könnten. Ich bejahte und schlug zu konvenierender Zeit einen Treff in einem ruhigen Lokal in der Innenstadt vor. Ich gab Ingemar die Adresse, und er sagte, ich brauche ihm den Weg nicht zu beschreiben, denn er würde ohne größere Probleme hinfinden.
Wichtiger sei, dass er mir erkläre, wie er aussehe, damit wir uns auch nicht verfehlten. Ich sagte, dass mir das nicht nötig erscheine, da besagtes Lokal um die vereinbarte Zeit fast leer sei.
Er meinte, dass er mir aber trotzdem sagen wolle, wie er aussehe, worauf ich kapitulierte: „How do you look like then?“ Antwort: „I look like Christoph Bertram.“
An dieser Stelle ist sinnvollerweise etwas Information über Christoph Bertram einzuschieben. Der war damals bereits eine nicht unbedeutende Persönlichkeit. Als junger Mann hatte er Helmut Schmidt geholfen, den Planungsstab im Bundesverteidigungsministerium aufzubauen.
Danach war er einige Jahre lang Direktor des berühmten Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London gewesen, um später dann der ZEIT als Ressortchef Außenpolitik zu dienen. (In diese Periode fällt die Episode, um die es hier geht.) Bertram ist eher unterdurchschnittlich groß, kompakt und zierlich zugleich. Er ist polyglott. Seine Manieren sind weitläufig. Seine Gesichtszüge erscheinen gefällig, wobei allerdings ein Zug herber Männlichkeit Energie verrät.
Doch zurück zu unserer kleinen Geschichte! Ich fand mich zur verabredeten Zeit am Treffpunkt ein. Hinter der Bar stand Gino, ein guter Freund, und sonst gab es nur noch einen einsamen Biertrinker in einer entfernten Ecke. Ich schenkte ihm einen kurzen Blick und sah farblose Haare, farblose Augen, Hängebacken, fahlgelbe Haut sowie ein ziemlich unordentliches Outfit.
Dann wandte ich mich Gino zu, plauderte ein bisschen mit ihm und wartete auf die Bertram-Kopie. Doch nichts geschah. Ich wartete und wartete und würdigte irgendwann, wahrscheinlich aus Langeweile, den Mann in der Ecke, der mittlerweile schon ein weiteres großes Bier fast ausgetrunken hatte, eines zweiten Blickes. Ich meinte, in seinen Augen ein leichtes Glimmen zu erkennen, dachte aber gleich, dass ich mich täuschte.
Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel, hatte ich eine Eingebung, ging auf den Biertrinker zu und fragte: „Are you Ingemar Doerfer?“ Er: „Yes, indeed, how come you know?“
Lutz Unterseher: Schöne Geschichten, LIT Verlag, Berlin 2020, 87 Seiten, 17,90 Euro. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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