Warum ich die Hoffnung an Indien verliere“ – so ist ein kürzlich erschienener Artikel der Bloomberg-Agentur überschrieben. Verfasser ist der Inder Andy Mukherjee, der die Politik seines Heimatlandes einer Generalabrechnung unterzieht. Sie gipfelt in der Feststellung, dass die Hoffnung seiner Generation, dass das Land sich rasch vorwärtsentwickle und seine Probleme überwinde, verschwunden sei. „Der nationale Traum, Chinas enormen Wachstum nachzueifern, verschwindet“, heißt es.
Das sind neue Töne, die den euphorischen Versprechungen der gegenwärtig Regierenden entgegenstehen. Auch andere kritische Stimmen betrachten mittlerweile den Zustand des Landes mit Sorge und schauen pessimistisch in die Zukunft. Viele befürchten, dass die Spaltung der Gesellschaft weiter zunimmt, begünstigt durch fehlendes Wirtschaftswachstum mit seinen negativen Auswirkungen wie Armut und massive Arbeitslosigkeit. Das von der Regierung verkündete Ziel, schon in den nächsten Jahren zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt aufzusteigen, wird als realitätsfremd charakterisiert.
Zweifellos hat die Covid-19-Pandemie an diesem Zustand ihren Anteil. Doch bei deren Handhabung, so Mukherjee, zeigten sich gravierende Fehlentscheidungen, die ihre Ursache in einem autoritären Führungsstil in Neu Delhi haben. Der ohne Vorankündigung am 24.-März 2020 verhängte Lockdown stürzte das riesige Land in ein Chaos und stieß Millionen von Wanderarbeitern noch tiefer ins Elend.
Autoritäres Regieren, gekoppelt mit Populismus, seien auch für eine beinahe desaströs endende Entscheidung verantwortlich gewesen: der Ende 2016 plötzlich angeordnete Geldumtausch beseitigte kein Schwarzgeld und keinerlei Korruption, er brachte stattdessen das Land an den Rand eines finanziellen Zusammenbruchs und belastete das Wachstum für längere Zeit.
Weiterhin würden notwendige wirtschaftliche Reformen nur zögerlich eingeführt, ihre Ausgestaltung erweise sich zudem als mangelhaft. So würden Widerstände hervorgerufen, die sich einflussreiche Interessengruppen zu Nutze machen. Die gegenwärtig stattfindenden Massenproteste der Bauern legen davon Zeugnis ab.
Auch Regierungsvertreter sprechen neuerdings davon, dass das Land vor großen Herausforderungen steht. Sie bringen allerdings Lösungen ins Spiel, die dem demokratischen Grundverständnis Indiens zuwiderlaufen. So klagte der Chef der höchsten Planungs- und Beratungsstelle des Landes, Amitabh Kant, dass es schwierig sei, wirksame Reformen durchzuführen. Der Grund sei „zu viel Demokratie“. Die Times of India vom 17. Dezember meinte dazu, dass Kant „den Handlanger für das Regime spielt, um ein Argument für die weitere Einschränkung unserer demokratischen Rechte zu testen“.
Eine ähnliche Diskussion hatte es in Indien schon einmal gegeben, in der Endphase der von der Kongresspartei geführten Regierung 2013/14. Diese Regierung bekam die Probleme des Landes nicht mehr in den Griff. Der Ruf nach einem „starken Mann“ wurde erhoben, und mit den Wahlen 2014 bekam Indien mit Narendra Modi diesen angeblich starken Mann. Seit über sechs Jahren mit seiner hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) an der Macht, nutzte Modi diese Zeit vor allem, um das Herrschaftssystem seiner Partei auszubauen. Heute ist sie die einflussreichste und stärkste politische Kraft in Indien.
Anfänglich wurde die BJP von einer Aufbruchstimmung getragen, die vor allem die Mittelschichten und die Jugend erfasste. Mittels Populismus, geschürtem Nationalismus sowie oftmals skrupellosen Methoden, insbesondere bei der Sicherung von günstigen Wahlergebnissen, wurde die Herrschaft zementiert. Indien ist in der Regierungszeit von Modi mit hindunationalistischem Gedankengut überschwemmt worden. Das artet oft in Diffamierung und Gewalt gegen Andersgläubige und Andersdenkende aus. Besonders betroffen sind dabei die weltoffene und tolerante Elite des Landes sowie die gesamte muslimische Religionsgemeinschaft. Letztere ist einem ständigen Druck ausgesetzt, die andauernde Diskriminierung soll nun auch juristisch festgezurrt werden.
Der Aufstieg der machthungrigen BJP ist mit dem Niedergang der Kongresspartei verbunden, die seit Jahrzehnten mit ihren großen politischen Persönlichkeiten die Geschicke Indiens geprägt hat. Sie ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Verantwortlich dafür wird die Gandhi-Familie gemacht, die sich an ihre Funktionen an der Parteispitze klammert und jegliche Reformierung der Partei ablehnt. Es gibt keine politische Programmatik mehr, die Partei hat ihre alte Wählerbasis und damit ihren Einfluss bei den Massen weitgehend verloren.
Für das politische System des Landes bedeutet das einen enormen Rückschlag. Dem Land fehlt so eine starke, gesamtnationale Oppositionspartei, die der BJP wirksam Paroli bieten könnte. Verloren ist damit auch der bedeutendste politische Träger des liberalen und säkularen Gedankenguts in Indien. Dessen Vertretern fehlt eine wirksame Plattform, von der – wie früher – wichtige Impulse für die Gesellschaft (wenn auch oft inkonsequent) ausgegangen waren.
Politische Analysten studieren aufmerksam die gesellschaftliche Entwicklung des Landes und registrieren jegliche Änderung. Es gilt heraus zu finden, ob sich die autoritäre Herrschaft weiter stärken kann oder ob sich auf Grund der Unzufriedenheit der Massen Veränderungen ergeben. Einen Fingerzeig dazu gab es vor kurzem bei den Landtagswahlen im Bundesstaat Bihar. Bihar, an der unteren Gangesebene gelegen, hat 120 Millionen Einwohner, davon sind zwei Drittel jünger als 35 Jahre. Es ist eines der ärmsten und rückständigsten Glieder der Indischen Union, das Kastensystem ist noch tief verwurzelt. Bihar ist auch die Heimat eines Großteils der Wanderarbeiter. Im Ergebnis der Wahlen entging das bisher regierende Establishment nur knapp seiner Ablösung. Der seit zehn Jahren amtierende Ministerpräsident Nitish Kumar, einst Hoffnungsträger der Armen sowie der säkularen und liberalen Kräfte ganz Indiens, konnte sich nur durch ein Zusammengehen mit der BJP in seinem Amt retten. Die meisten Stimmen erhielt die Partei eines 31-jährigen jungen Politikers, der sich über alle Kasten- und Religionszugehörigkeiten hinwegsetzte und rigoros für die arbeitslose Jugend des Landes und die Schaffung von Arbeitsplätzen eintrat.
Das lässt aufhorchen, auch wenn die Entwicklung in einem Unionsstaat für das übrige Indien nicht repräsentativ ist. Zu allgegenwärtig und einflussreich ist die BJP. Ihr Zugpferd, Premierminister Narendra Modi, erfreut sich nach wie vor großer Popularität, ja, in einigen Bevölkerungsschichten wird er wie ein unantastbarer Heiliger wahrgenommen. Diese Popularität wird nicht zuletzt durch große Sozialprogramme gepflegt, um das Elend vieler zu lindern und untragbare Rückständigkeiten zu beseitigen. So wurde in ländlichen Gebieten das Straßennetz beträchtlich ausgebaut, Dörfer wurden an Trinkwasser und Elektrizität angeschlossen sowie Sanitäranlagen (Toiletten) geschaffen. Menschenunwürdige Bedingungen wurden so beseitigt. Daneben gibt es umfangreiche, oft kostenlose Lebensmittellieferungen. Ein Sonderprogramm mit der Bereitstellung von Kochgas befreite viele Hausfrauen von dem Krankheit erzeugenden Verfeuern von Dung in der Küchenstelle – was bei den erwähnten Wahlen in Bihar durch eine ungewohnt hohe Wahlbeteiligung von Frauen honoriert wurde, die mehrheitlich die Partei von Narendra Modi wählten!
Aus gesamtindischer Sicht befindet sich die Regierung Modi nach wie vor fest im Sattel. Die Alternative zu ihr wäre Instabilität, denn es gibt, wie gesagt, keine handlungs- und führungsfähige Opposition. Die vielen Parteien des Landes haben kaum überregionale Ausstrahlungskraft, Bündnisse erbrachten bisher immer nur kurzfristige Erfolge. Bleibt der Protest von der Straße, der das Regime zwar zu Zugeständnissen zwingen, aber an der generellen Ausrichtung der hindunationalistischen Politik kaum eine Änderung herbeiführen kann.
Schlagwörter: BJP, Edgar Benkwitz, hindunationalistisch, Indien, Indischen Volkspartei, Narendra Modi