Homo, Mensch, nannte man später die Lebewesen mit aufrechtem Gang und ausgeprägtem Hirn, die sich vor 2,5 Millionen Jahren aus dem Tierreich erhoben hatten. Alle Arten, die diese Gattung entwickelte, starben bis vor 50.000 Jahren aus, bis auf den cleveren Homo sapiens, der als einzige Spezies überlebte und sich farbenfroh globalisierte. Immer wieder brachten ganze Gruppen dieser Art sich gegenseitig um, mit Kriegen und Massenmorden, Versklavung und Ausbeutung.
Die Gattungsfrage: Trotzdem wurde die Evolution des Menschen eine Erfolgsgeschichte; denn er ist mehr als jede andere Gattung fähig zu universeller Ethik, Vernunft und Kooperation. Wenn er will. Seit 150 Jahren aber, seit er die Lebenswelten industriell revolutioniert, setzt er, der angeblich „verständige“ Mensch, seine gesamte Existenz aufs Spiel. Neben der hemmungslosen Ausplünderung des Planeten, auf dem er lebt, der Schaffung eines atomaren Overkills und zügelloser Selbstvermehrung sind seine neuesten Fehlleistungen die Zerstörung des Erdklimas und die Selbst-Kontaminierung mit tödlichen Viren. Er ist eben auch zu Dummheit, Hybris und Egoismus fähig. Und kaschiert sein Versagen gern, indem er es dem Wirken höherer Mächte andichtet.
Die Klimakatastrophe und die Corona-Pandemie sind keine voneinander unabhängigen, schicksalhaften Ereignisse, sondern finden ihren Ursprung in menschlichem Versagen. Die Natur schlägt zurück, weil der Mensch sich auf dem Planeten zu viel Raum genommen und seinen Stoffwechsel mit der Natur zu sehr beschleunigt und intensiviert hat. Er zerstört seine eigenen natürlichen Lebensgrundlagen und rückt zu dicht an die Lebensräume anderer Lebewesen heran. Dabei gilt: Der Mensch braucht die Erde, die Erde aber braucht nicht den Menschen.
Deshalb geht es heute politisch um nichts weniger als die „Gattungsfrage“, die Existenz der Menschheit auf dem Planeten Erde. Überlebt der Homo sapiens oder stirbt er aus wie Homo neanderthalensis und Homo denisova? Andere Fragen wie die soziale Frage und die Geschlechterfrage sind dadurch nicht hinfällig, aber sie müssen unter dem Primat der Gattungsfrage neu interpretiert werden. Und diese zieht unweigerlich eine weitere Frage nach sich – die nach dem richtigen Leben und Wirtschaften, die Systemfrage.
Post-Wachstumsgesellschaft: In der aktuellen Not- und Krisensituation ist es unumgänglich geworden, Technologien zur Schadensbegrenzung und zur Erhöhung menschlicher Widerstandfähigkeit zu verbessern. Das gilt gewiss auch für ein demokratisches Krisenmanagement. Doch auch wenn kurzfristige Maßnahmen unerlässlich sind – weitere katastrophale Zuspitzungen sind nur durch Prävention zu verhindern. Die Zukunft liegt ausschließlich in einer grundsätzlichen Wende der Art, wie wir wirtschaften, produzieren, handeln und konsumieren.
Die wirtschaftliche Globalisierung der letzten 30 Jahre hat zweifellos Erfolge gebracht: Die Zahlen von absoluter Armut, Kindersterblichkeit und Analphabetismus haben sich halbiert. Zugleich aber ist die Kluft zwischen Reich und Arm größer geworden und die „imperiale Lebensweise“ hat den Planeten als Ganzen überlastet. Eine aufgeklärte Wirtschaftspolitik muss deshalb die fundamentalen Erkenntnisse der Natur- und Geowissenschaften über die Grenzen des Wachstums zur Maxime ihres Handelns erklären.
Quantitatives Wachstum und Profitmaximierung haben als Zielgrößen und Strategien globaler Wohlstandssteigerung ausgespielt. Zur Existenzsicherung der Gattung taugen sie überhaupt nicht, im Gegenteil. Selektives Wachsen und Schrumpfen auf der Basis einer vernunftgeleiteten internationalen Strukturpolitik müssen das interessengeleitete Marktgeschehen ersetzen. Ziel ist eine globale Post-Wachstumsgesellschaft, in der die Gattung Mensch die natürlichen Ressourcen mit Verantwortung und Augenmaß nutzt.
Sozial-ökologische Mischwirtschaft: Unbegrenzter Freihandel, ein kaum regulierter Weltmarkt und rücksichtslose internationale Arbeitsteilung sind, gefördert von liberal-konservativer Politik, zur ökonomischen Leit-Ideologie geworden. Ihr theoretisches Kalkül der komparativen Kostenvorteile mag kleinräumig aufgehen; im globalen Maßstab hat es sich als fatal erwiesen – rational im Detail, irrational im Ganzen. Märkte sind gewiss unverzichtbar, doch sie bedürfen einer ökologischen und sozialen Rahmensetzung, neuer Kosten- und Belohnungssysteme, die in alle Investitionsentscheidungen hineinwirken. Eine Wirtschaftsdemokratie, die über die gängige innerbetriebliche Mitbestimmung hinausgeht, könnte die Entscheidungsmacht von Shareholdern, Investmentbankern und bonusgierigen Managern eindämmen. Hinzu käme die Vergemeinschaftung von Infrastruktur und Bodenflächen.
Maximaler Export darf nicht, sondern vernunftgeleiteter Austausch sollte das Ziel sein. Eine Orientierung auf regionale Kreisläufe mit kürzeren Lieferketten und die Kaufkraftsteigerung ökonomisch schwächerer Schichten kann nachhaltiges Wirtschaften und die autonome Produktion von Gütern, die für die private wie staatliche Sicherheit unabdingbar sind, fördern. Eine internationale Finanzpolitik, die eher auf Schuldenerlasse als auf neue Kredite setzt, unterstützt ein solches Umsteuern.
Friedliche Weltordnung: Die Antwort auf die fatale Globalisierung kann nicht der Rückfall in nationalstaatliche Enge sein, erst recht nicht in föderale Kleinstaaterei. Ein brauchbarer Mittelweg ist die Bildung von regionalen Staatengruppen wie der Europäischen Union. Eine solche Regionalisierung zeichnet sich bereits als neue globale Struktur ab. Daraus eine friedliche und kooperative „Weltordnung“ zu machen, gehört zu den Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Sie könnte Institutionen hervorbringen, die nationale Interessen einhegen und einen globalen Interessenausgleich unter Beachtung der ökologischen Belastbarkeit der Erde organisieren.
Bei aller Kritik an seinem heutigen Zustand liegt unsere Zukunft deshalb in einem politisch gestärkten, demokratisierten, entbürokratisierten und friedlichen Europa, das sich solchen Zielen verpflichtet.
Erinnern wir uns: Wir wurden zum Homo sapiens durch Sprache, Kultur, Kooperation und Ordnungsmuster, die Hass und Gewalt eindämmten. Sie führten weit über die Face-to-face-Kommunikation im eigenen Stamm hinaus. Die Historie stellt sich – bei allen grauenvollen Rückfällen – insgesamt als Prozess der Zivilisation dar und muss als Maßstab für das heutige Handeln von Politik und Wirtschaft gelten. Die Vereinten Nationen haben – wenn auch noch unvollständig – den zivilisatorischen Fortschritt kodifiziert. Sie zu stärken und weiterzuentwickeln liegt im Interesse der Menschheit. Die UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zeichnet den Pfad, den die Gattung Mensch gehen muss, wenn sie überleben will.
Bevölkerungspolitik: Die eigentlich glückliche Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung trägt zu einer Beschleunigung der ökologischen Krise und der Pandemiegefahren bei. Weil immer mehr Menschen die Erde bevölkern, werden immer mehr Lebensräume überstrapaziert. Auch wenn die UNO ein Ende des Bevölkerungswachstums bei etwa 11 Milliarden Menschen annimmt – es sind zu viele. Wie deren Versorgung organisiert werden könnte, ist offen.
Eine weitere industrielle Intensivierung der Landwirtschaft, die heute schon einen großen Anteil am ökologischen Desaster trägt, ist keinesfalls die Lösung. Ebenso wenig die Verpflichtung zum Veganismus oder andere Wege individueller Lebensreform. Wenn nicht wie in früheren Zeiten Kriege, Seuchen und Hunger das Bevölkerungswachstum signifikant drosseln sollen, dann gehört das Thema der Bevölkerungspolitik wieder prominenter auf die Tagesordnung. Die „Würde“, die Homo sapiens sich zuschreibt, verlangt, die Geburtenzahl rational zu steuern und nicht Seuchen wie Covid-19 und ihren Nachfolgerinnen die „natürliche Auslese“ zu überlassen.
Während einige Weltregionen heute die Bevölkerungszahl stabil halten, weisen andere noch übermäßige Wachstumsraten auf. Forcierte Bildungsangebote für Frauen und Sozialstaatlichkeit statt der tradierten Clan-Orientierung sollen hier dämpfen. So unverzichtbar diese sind, ob sie rechtzeitig hinreichende Effekte haben werden, darf bezweifelt werden. Global verabredete bevölkerungspolitische Zielgrößen könnten sich an der durchschnittlich nötigen Reproduktionszahl von 2,1 Kindern pro Frau orientieren. Sie müssten in allen Regionen der Erde gegen religiöse, kulturtraditionalistische und patriarchalische Muster durchgesetzt werden. Die Menschenwürde liegt nicht in einer hohen Kinderzahl, sondern darin, dass die lebenden Individuen nicht jämmerlich verrecken.
Fazit: Die Corona-Krise ist quälend, aber sie bietet auch eine Chance. Sie bietet die vielleicht letzte Chance, vernunftgesteuert die Entwicklungsrichtung zu ändern, bevor ein katastrophaler natürlicher Super-Gau der in ihrer Hybris selbsternannten „Krone der Schöpfung“ (lateinisch: corona genesis) ein Ende macht. Ein Zurück zum Status quo ante, wie er von den Profiteuren des gescheiterten Systems gefordert wird, ist jedenfalls der falsche Weg.
Der Autor ist promovierter Sozialwissenschaftler. Er ist Gründungsmitglied der Grünen und war von 1983 bis 2005 MdB, von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Hier schreibt er als Mitglied der „Gruppe Neubeginn“, eines intellektuellen Freundeskreises, zum dem auch die Schriftsteller Ingo Schulze und Daniela Dahn gehören.
Berliner Zeitung, 30.11.2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Homo sapiens, Ludger Volmer, Mensch