23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

„Was wir heute im Museum sehen, ist Dreck“

von Jürgen Schneider

Unter dieser Überschrift veröffentlichte die Zeitschrift Kunst und Aktionen in der Ausgabe vom 8. November 2020 ein bemerkenswertes Interview mit dem Wuppertaler Professor Bazon Brock. Der aus Funk und Fernsehen bekannte Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung hat eine gewichtige Stimme im nationalen und internationalen Kunstgeschehen. Umso bemerkenswerter sind seine aktuellen Positionen. Beispielhaft möchte ich drei davon kommentieren.

Erstens: Die gegenwärtigen Förderstrukturen der Kunstinstitutionen entsprechen nicht mehr den tatsächlichen Erfordernissen. So geben die Museen unendlich viel Geld aus, um zum Beispiel Ausstellungsprojekte mit den Stars der Kunstwelt zu realisieren. Diese Elitekünstler bedürfen solcher Unterstützung zumeist nicht. Sie finanzieren sich überwiegend selbst durch private Galerien und Lizenzen oder Bildrechte. Jedermann kann die privaten Galerien besuchen und zumeist kostenfrei an dieser Kunst teilhaben. Man muss die Allokation der materiellen Ressourcen hinterfragen.

Zweitens: Die Kunst- und Künstlerförderung sollte sich auf die in der Fläche schaffenden Künstler und Galeristen konzentrieren. Sie leisten Basisarbeit im Entdecken und Vermitteln. Die Breite an Talenten und Kunstvermittlern sorgt für die die künstlerische Elite von morgen. Klar ist, wie bei allen künstlerischen, sportlichen und auch wissenschaftlichen Aktivitäten, dass nur ein minimaler Anteil (circa zwei bis vier Prozent) jemals zur den absoluten Spitze gehören wird. Dies ist nun einmal so und damit auch kein rausgeschmissenes Geld. Eine vielbenutzte Phrase von Kultur- und Parteipolitikern sind die „kulturellen Leuchttürme“. Hinter den „Leuchttürmen“ verbirgt sich eine sehr durchsichtige Feigenblattpolitik. Einerseits vermittelt man das Gefühl etwas Gewichtiges für die kulturelle Identität zu leisten, andererseits ist dann kein Budget mehr für die kulturelle Arbeit im Lande übrig. Die Breite ist aber die Basis für die Spitze.

Drittens: Wir stecken hunderte Millionen in Leuchtturmprojekte, bauen neue Museen und entlassen dabei die Kultureinrichtungen aus den ureigentlichen Aufgaben: dem wissenschaftlichen Sammlungsauftrag und dem daraus abgeleiteten Bildungsauftrag. Früher begaben sich die Kustoden der großen Kunstmuseen „auf die Straße“, um neue und wissenschaftlich wertvolle Sammlungsgegenstände zu finden. Auch um diese ihr Haus zu erwerben. Heute hingegen hat sich ein Konglomerat von privaten Stargaleristen, Sammlern und Kuratoren gebildet, deren Normsetzungen die Museen zu oft übernehmen. Um wenigstens äußerlich möglichen Interessenkonflikten vorzubeugen, werden Beiräte zur Beratung berufen. Dort sitzen dann die gleichen Leute. Im Ergebnis sehen die Programme und Sammlungen dann uniformiert aus. Egal ob München, Hamburg, Berlin, London, Essen überall findet man die gleichen Künstler in den Sammlungen der Moderne. Bazon Brock schrieb richtig: „ […] bis in die 1970er Jahre gaben die Museen noch an, was gut ist: Was da im Museum war, war Ausweis für bedeutsame Kunst. Dann übernahm der Markt diese Rolle – und die Museen wurden abgehängt beziehungsweise hatten keinen Zugang mehr“.

Die Frage des Preises eines Kunstwerkes spielt hinsichtlich der künstlerischen Relevanz des Kunstwerkes eine untergeordnete Rolle.

2018 besuchten 19,1 Millionen Besucher ein Kunstmuseum in Deutschland. (laut Statista 2020). Das sind deutlich mehr als die 13,5 Millionen Stadionbesucher der ersten Bundesliga, die der Deutsche Fußball-Bund angibt. Formal scheint dies ein gutes Ergebnis für die Kunstmuseen zu sein. Bedenkt man jedoch, dass 2019/2020 etwa 8,33 Millionen Schüler an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland lernten, aber nur rund 15 Prozent der Schüler einmal im Museum waren, sieht es nicht mehr so erfreulich aus.

Was sind die Ursachen für dieses Ergebnis? Zuerst ist es das Versagen unseres Bildungssystems. Über Jahre hinweg wurden durch die Bildungspolitiker der Länder und Kommunen die Stundentafeln in den Schulen gekürzt. In Zeiten, wo kaum Personal für Mathe- oder Deutschunterricht vorhanden ist, fallen Kunst, Musik und Literatur am leichtesten über die Kante. Der gesellschaftliche Kanon, dass Kunst und Kultur ein essenzieller Bildungsbestandteil und Teil des westlichen Wertesystems sein müssen, wurde von den deutschen Parteien in den 1970er und 1980er Jahren überwiegend aufgegeben und in den Bereich des Privaten delegiert. Heute finden sich in den Grundsatzprogrammen der Bundestagsparteien kaum weiterführenden Aussagen zur Kunst- beziehungsweise Kulturpolitik. Damit verlieren diese normativen Werte an Bedeutung und die gesellschaftlichen Bindekräfte lassen nach. Stattdessen wird das kulturelle Narrativ durch inhaltslose Floskeln ersetzt. Beispiele für die großen Nullworte unserer Zeit wären „Nachhaltigkeit“, „multikulturelle Gesellschaft“ oder „bürgerliche Mitte“. Der Mangel an verbindlicher inhaltlicher Bestimmung öffnet den Weg zu differenten Interpretationen.

Jürgen Schneider (geboren 1960) lebt als freier Kurator und Art-Consultant in Berlin. Seit dem Studium beschäftigte er sich mit Fragen zur Werthaltigkeit von Kunstobjekten und Kunst als Anlageklasse in der Vermögensverwaltung. Im Rahmen gelegentlicher publizistischer Tätigkeit nimmt er in Finanzmagazinen Stellung zum Kunstmarkt und zum kulturellen Zeitgeschehen.