Es gibt Menschen – Komponisten, Schriftsteller, bildende Künstler –, die durch ein Werk in Erinnerung bleiben; alles Übrige ist vergessen. Und es gibt Künstler, deren Werk nur dadurch überhaupt erinnert wird, weil es als Folie zu einem anderen, größeren, wichtigeren diente. So ist es bei Ludwig Derleth, der vor hundertfünfzig Jahren, am 3. November 1870, geboren wurde.
Derleth stammte aus dem unterfränkischen Gerolzhofen, verbrachte seine Jugend in Franken und studierte Klassische Philologie, Philosophie und Psychiatrie in München. Hier schloss er sich dem George-Kreis an, der ihn mehr prägte, als er später wahrhaben wollte; auch zu den Kosmikern um Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Alfred Schuler hatte er Kontakt. Beide sich überschneidenden Gruppen bildeten den Kern der Schwabinger Bohème um 1900, die Fanny zu Reventlow als „Wahnmoching“ so unterhaltsam verewigt hat; sie fanden sich zusammen in der Arbeit an den 1892 von George begründeten Blättern für die Kunst, an denen auch Derleth mitarbeitete.
Derleths erstes Werk waren seine „Proklamationen“, 1904 in einer schönen Ausgabe bei Insel in Leipzig erschienen. Ihnen verdankt er indirekt seinen Nachruhm: In der Osterwoche 1904 besuchte Thomas Mann eine Lesung Derleths aus diesem Werk; noch im selben Jahr verarbeitete der junge Dichter seine Eindrücke in der kleinen Erzählung „Beim Propheten“, mit der er seine Kritik an dem elitären und anmaßenden Ästhetizismus des George-Kreises auf den Punkt brachte: „Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich …“
Der Prophet verdiente freilich seinen Lebensunterhalt damals noch als Gymnasiallehrer für alte Sprachen. Erst 1906 gab er den Schuldienst auf und lebte seither als freier Schriftsteller, zunächst weiter in München, ab 1925 in Rom, von 1927 bis 1935 in Perchtolsdorf bei Wien. Dort entsteht sein Hauptwerk, der „Fränkische Koran“. In 15.000 Versen beschreibt dieser „Weltgesang“ die „Pilgerfahrt der Menschenseele von Gott zu Gott“ – in einer ekstatischen Diktion, die an Nietzsches „Zarathustra“ anknüpfen will, aber längst nicht dessen Sprachkraft erreicht.
Die letzten dreizehn Jahre verbrachte Derleth im Tessin: in einem großen Palazzo in San Pietro die Stabio. Dort vollendete er 1937 die Gedichtsammlung „Die Lebensalter“, 1939 die „Seraphinische Hochzeit“, 1946 den „Tod des Thanatos“ und starb daselbst am 13. Januar 1948.
Seine Frau Christine, die er 1924 geheiratet hatte – Schwester seines Freundes Wilhelm Ulrich und zweieinhalb Jahrzehnte jünger als er – hat ihn bis 1991 überlebt; sie hat den Nachlass ihres Mannes gehütet und 1973 ihre Erinnerungen an ihn unter dem Titel „Das Fleischlich-Geistige“ herausgebracht. Damit hat sie einen Begriff aufgenommen, den er selbst als den Kernpunkt seiner Weltsicht benannt hat: „Der Mensch könnte nicht er selbst sein, wenn ihm nicht der sinnliche Genuß als Träger des übersinnlichen geblieben wäre, als ein Vorspiel von dem seligen Zustand seiner immateriellen Existenz nach dem Tode, wenn die Organe des Geistleibs stark geworden sind zu allem, was die himmlische Begierde nährt. Er ist nur Gottes Sohn, inwiefern er auch Sohn der irdischen Mutter ist. Was aber Oberes und Unteres in ihm verbindet, ist nicht das Fleisch, nicht der Geist, sondern das Fleischlich-Geistige, das Paradiesische, das beiden Welten gleich befreundete Wunschreich der Freude.“
Das klingt katholisch: die quasi sakramentale Auffassung, dass das Endliche das Unendliche nicht nur repräsentiert, sondern umfasst – Anspielung auf den Kirchenvater Cyprian von Karthago, dass Gott nicht zum Vater haben könne, wer nicht die Kirche zur Mutter habe. Aber diese katholisch anmutenden Denkfiguren werden von Derleth eben doch charakteristisch anders gefüllt: die Verbindung von Fleisch und Geist ist nicht beschränkt auf das von der Kirche verwaltete, vom Priester dargereichte Sakrament, sondern gehört zur Grundausstattung des Menschen; nicht die Kirche ist die Mutter des Gotteskindes, sondern die Frau, mit der es gezeugt wurde. Derleth wollte einen gereinigten Katholizismus, der den Menschen als ganzen umfasst, wollte eine Hierarchie erneuerten geistigen und leiblichen Lebens, keine klerikale Institution – kein Wunder, dass die Amtskirche ihm wenig zugetan war.
Doch der esoterisch-autoritäre Habitus des „Propheten“ durchzieht sein ganzes Werk. George hat Derleth einmal als „Imperatoren-Natur auf dem Boden der christlichen Welt“ bezeichnet. Thomas Mann zielt in dieselbe Richtung. Er hat Derleth noch einmal porträtiert, im „Doktor Faustus“ als Daniel zur Höhe, dessen Dichterträume „einer in blutigen Feldzügen dem reinen Geiste unterworfenen, von ihm in Schrecken und hohen Züchten gehaltenen Welt“ gelten. Die Zuordnung der Person im Kosmos der Figuren wie die Wortwahl zeigen, wie sehr Mann „den Ästhetizismus als Wegbereiter der Barbarei“ erkennt und damit Künstler wie Derleth einreiht in die Vorgeschichte des Schreckens, dem sich dieser Roman über das deutsche Verhängnis verdankt.
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Ludwig Derleth, Thomas Mann