Es war einmal ein Tag, an dessen Abend ich mich auf den Weg machte, um Wasser zu finden. Ein junger Mann aus Amerika, der uns auf dem Arctic Circle Trail begegnet war, erzählte mir von einer Quelle. Sie liege unterhalb des Plateaus, auf dem wir unser Zelt aufgebaut und uns wieder mal für eine Nacht nicht nur heimisch eingerichtet hatten; ich empfinde es bis heute wie eine Landnahme für einen Abend, eine Nacht, einen Morgen. Eine Heimat-Inbesitznahme: Wenn das Quartier sicher ist, mag kommen, was will. Bis zum Morgen sind wir geborgen. Bis wir weitergehen.
Ich stieg einen Hang hinab. Nach wenigen Metern verschwand das Zelt hinter mir. Es erstaunt mich immer wieder, wir rasch das Gelände hinter einem Wanderer unbekanntes Terrain wird, obwohl er eben noch des Ortes sicher war. Ein leichtes Auf und Ab, und drehst du dich um, weißt du nur noch vage, woher du gekommen bist. Eine Bodenwelle – und du bist verschwunden. Boden als Welle: das Feste und das Bewegliche in einem Wort. So magisch, wie das Laufen mir manchmal wie Fliegen vorkommt: wenn der Blick seitlich den Gang der Berge begleitet, in Zeitlupe wandere nicht ich, sondern die Landschaft wandert.
Es ging abwärts, wieder aufwärts. Ich hatte mir die Richtung gemerkt, einen gewaltigen Felsbrocken, an dem ich vorbeikam, und in der Ferne den Gipfel eines Berges. Bis ich auf ein Rinnsal klaren, kalten Wassers stieß. Das Bächlein konnte nicht das Quell-Kind eines tosenden Wasserfalls sein; es stürzte keiner den Berg hinab. Auch war es kein dünner Seiten-Arm eines Gletscherflusses; es fehlte das milchige Türkis. Das Wasser kam, ein paar Schritte nur bis zum Anfang, aus der Erde.
Die Quelle speiste einen winzigen Teich, den das Wasser überstieg und den Bach bildete, an dem ich entlang gelaufen war. Ehe ich mich niederkniete, um meinen Wassersack zu füllen, schaute ich auf und um mich. Es beruhigte mich, dass ich den Gipfel des Berges sah – immerhin – , aber nichts anderes hinter mir erinnerte mich an den Weg bis hierher. Woher war ich gekommen, wohin müsste ich gehen? Das sind zwei Fragen, die eine leichte Panik erzeugen und die Phantasie beunruhigen können.
Während ich Wasser schöpfte und mich zur Ruhe zwang, entdeckte ich sie: zwei Fische, Saiblinge, die sich in dem kleinen Teich tummelten. Entweder spielten oder kämpften sie miteinander. Sie umschwammen sich, sie kamen sich nahe, sie entfernten sich voneinander. Viel Kampf- oder Spielraum war da nicht, und ich überlegte, ob ich sie fangen sollte. Es wäre ein Leichtes, sie zu greifen, sie zu töten und als Beute zum Abendessen mitzunehmen. Nach Hause, zum Zelt, von dem ich mich entfernt hatte, oja, oweh, die Heimat, wie find ich sie wieder? Wenn sie erstmal verschwunden ist … Aber das sind unnütze Gedanken, wenn es um Wasser und Fische geht.
Ich ließ sie schwimmen. Ich wollte nicht so albern und kindisch sein, wie die Franzosen, denen ich vor Stunden zusah. Sie hatten wie wir den Lachs-Fluss durchwatet und machten eine Pause, in der die beiden Frauen Wäsche machten und die beiden Männer in kurzen Unterhosen versuchten, Saiblinge zu harpunieren.
Die Fische waren lang wie erwachsene Unterarme. Es wimmelte von ihnen. Sie schossen aus dem Wasser, schlugen Salti, platschten zurück. Die Männer verwandelten sich in übermütige Halbwüchsige, die ihren diebischen Spaß hatten. Sie meinten, so große Fische in so klarem Wasser seien mit Wanderstöcken leicht heraus zu stochern und würden überm Feuer eine Speise vom Feinsten sein. Doch den Leistungs-Sprung vom modernen Pariser zum fischenden Neandertaler schafften sie nicht.
Das Wasser täuscht, bricht optisch einen Stab, und er verfehlt sein Ziel. Außerdem sind Fische nicht doof; sie entkamen der Stocherei. Und von der Intelligenz der Fische erfuhr ich jetzt: Die beiden Saiblinge im Kleinst-Teich, an dem ich kniete, redeten miteinander. Ich hörte es genau.
Fisch 1: „Glaubst du, er will uns Böses?“
Fisch 2: „Was ist das Böse bei den Menschen?“
Fisch 1: „Sie töten.“
Fisch 2: „Uns? Warum?“
Fisch 1: „Sie wollen uns essen.“
Fisch 2: „Würdest du sie essen wollen?“
Fisch 1: „Nie und nimmer!“
Fisch 2: „Er sieht eher erschöpft und ratlos aus.“
Fisch 1: „Er hat Angst, nicht zurückzufinden.“
Fisch 2: „Wohin ‚zurückfinden‘?“
Fisch 1: „Woher er gekommen ist. Von hier ist er jedenfalls nicht. Er sieht nicht aus wie ein Inuit.“
Fisch 2: „Was geht’s uns an. Lass uns noch ein paar Runden im Kreis schwimmen. Ich mag das.“
Ich schwöre bei meiner Wander-Ehre, dass der eine der Fische „Danke, Freund, dass du uns am Leben lässt!“ sagte. Und der andere Fisch fügte hinzu: „Du wirst deinen Weg finden, Freund!“ Ein schlauer Bursche, dachte ich, er kannte den Unterschied zwischen finden und machen. Und als ich nach wenigen hundert Metern, ich war viel weniger weit vom Zelt entfernt auf die Quelle gestoßen, als ich annahm, sehr erleichtert und sehr, sehr zufrieden den vollen Wassersack absetzte, sprach ich zu meiner Liebsten: „Du glaubst nicht, was ich eben erlebt habe. Es gibt Fische auf Grönland, die können sprechen!“
Und da unser Zelt unweit der Eqalugaarniarfik-Hütte stand, sagte sie sanft: „Ich weiß! Frösche machen Qalug, Qalug. Und Garnelen garnieren Nieren!“
Das verstand ich nicht. Muss man alles verstehen?
Schlagwörter: Arctic Circle Trail, Eckhard Mieder, Grönland