Wie die Nuklearwaffen der Atommächte gegen Cyber-Angriffe gesichert sind, ist streng geheim. Experten sind sich ziemlich sicher, dass Atomwaffen und Befehlsstränge für den Einsatz dieser Systeme nicht ans Internet angeschlossen sind. Die mitten im Land in unterirdischen Silos stationierten US-Interkontinentalraketen sind zudem mehrere Jahrzehnte alt – auch das schütze sie vor Cyberattacken, glaubt der Nuklearexperte Ulrich Kühn vom Hamburger „Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“: „Da wissen wir, dass diese Systeme so alt sind, dass keine große Gefahr besteht, dass es da zu Cyber-Angriffen kommt. Teilweise werden die noch mit 17 Zoll Floppy-Disketten betrieben. Aber wie sieht es aus bei Systemen, die inzwischen modernisiert worden sind, beispielsweise bei der Command and Control? Da gehört beispielsweise die Früherkennung mit rein. Die verläuft über Satelliten. Da wissen wir beispielsweise nicht, wie gesichert sind diese Satelliten, beziehungsweise zu welchem Grad?“
Die Frühwarnsatelliten könnten schon jetzt durch Cyberangriffe mit versteckten Computerviren infiltriert sein. Damit ergäbe sich die Möglichkeit, die Satelliten so zu manipulieren, dass sie angreifende Raketen nicht erkennen. Sicher ist, dass die Atommächte intensiv an Cyberwaffen und am militärischen Einsatz von Künstlicher Intelligenz forschen, sagt der Sicherheitsexperte Vincent Boulanin vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Staaten wie die USA, China und Russland versuchen, Cyberfähigkeiten zu entwickeln, um in die Nuklearwaffensysteme der anderen Länder einzudringen. Sie versuchen wahrscheinlich auch in die Kommandoketten zu gelangen, um dort Spionagesoftware aufzuspielen oder auch die Identifikation von befehlshabenden Personen zu fälschen.“
Die Gefahr, dass durch solche Cyberangriffe letztlich ein Nuklearschlag ausgelöst wird, ist allerdings gering. Denn die Atommächte dürften kein Interesse daran haben, dass der vermeintliche Gegner seine Nuklearwaffen einsetzt.
Nukleare Abschreckung basiert auf der Annahme, dass ein Staat seine Nuklearwaffen nicht zum Einsatz bringt, weil er davon ausgehen muss, dass bei einem Angriff sofort ein atomarer Gegenschlag erfolgt – mit unabsehbaren Verlusten. Experten sprechen von der sogenannten Zweitschlagsfähigkeit. Dieses Prinzip könnte durch Cyberattacken sowie neuen mit Künstlicher Intelligenz ausgestatteten Waffen jedoch unterminiert werden. Die USA forschen zum Beispiel an Mikro-Drohnen, die – im Schwarm ausgesetzt – unter Wasser feindliche nuklear bestückte U-Boote oder aus der Luft mobile Raketenabschusseinrichtungen in Echtzeit erkennen können. Das könnte gravierende Auswirkungen auf die Zweitschlagsfähigkeit haben, meint der Sicherheitsexperte Frank Sauer von der Münchener Bundeswehr-Universität. Die Vorstellung ist: Ein nuklearer Erstschlag könnte eventuell erfolgreich sein, ein nuklearer Vergeltungsschlag dagegen unmöglich werden. Das war bisher nicht der Fall. Frank Sauer: „Man hatte nicht die Möglichkeit, derart ausdauernd beispielsweise getauchte Systeme zu verfolgen. Man hatte nicht die Möglichkeit, mit Schwärmen auf Jagd zu gehen mit Blick auf landgestützte mobile Systeme. Da gehört natürlich auch Cyber mit rein – also auch Netzwerkoperationen, die möglicherweise die Zweitschlagsfähigkeit gefährden.“
Cyberoperationen könnten nämlich beispielsweise Frühwarnsatelliten manipulieren. In zugespitzten Situationen, in denen es bereits zu bewaffneten Zwischenfällen gekommen ist, könnte das Land, dessen Satelliten angegriffen werden, einen nuklearen Angriff befürchten. Das Risiko steigt, dass dieser Staat sich in einer solchen Situation zu einem präventiven Atomschlag entschließen könnte – also einem Nukleareinsatz, weil die Regierung glaubt, mit Atomraketen angegriffen zu werden. Ein mögliches Szenario: Bei Spannungen im südchinesischen Meer entscheidet China, einen US-Satelliten abzuschießen, um die konventionellen militärischen Fähigkeiten der USA zu beschränken. Da der US-Satellit aber sowohl für die Früherkennung von Starts konventioneller als auch nuklearer Raketen von entscheidender Bedeutung ist, könnte eine gefährliche Eskalation bis zum Atomkrieg die Folge sein, befürchtet der Hamburger Konfliktforscher Ulrich Kühn: „Ein solcher Cyber-Angriff der chinesischen Seite würde dann auf amerikanischer Seite dazu führen, dass das amerikanische Militär davon ausgehen muss, dass dies die Vorbereitung der Chinesen für einen nuklearen Angriff ist. Und damit eskaliert binnen kürzester Zeit eine unter Umständen vielleicht noch gerade beizulegende Krise hoch aufs nukleare Level.“
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, um die Wirksamkeit von Frühwarnsystemen zu verbessern, kann allerdings auch Vorteile haben. Denn mit Künstlicher Intelligenz könnten weit mehr Daten von vielen unterschiedlichen Sensoren in viel kürzerer Zeit analysiert werden. Wenn angreifende Raketen schneller erkannt werden, hätten Entscheidungsträger auch mehr Zeit, um zu klären, ob es sich um einen realen Angriff oder um einen Fehlalarm handelt. Einige US-Atomwaffenexperten schlagen vor, den Abschuss von Atomwaffen zu programmieren und allein mit Künstlicher Intelligenz ausgestatteten Systemen zu übertragen. Weil die Anflugzeiten von Atomwaffen immer geringer werden, würden dann diese Systeme in Zukunft autonom und automatisch den atomaren Gegenschlag auslösen.
Noch sind auf künstlicher Intelligenz beruhende Waffensysteme wie unter Wasser oder in der Luft eingesetzte Schwärme von Mikro-Drohnen Zukunftsmusik. Es müsse aber unbedingt verhindert werden, dass Maschinen über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden, meint SIPRI-Wissenschaftler Vincent Boulanin: „Das könnte die Gefahr einer versehentlichen Eskalation zu einem nuklearen Konflikt erhöhen. Außerdem sind die Systeme mit künstlicher Intelligenz nicht zuverlässig, auch wenn sie besser werden. Und sie können sich ganz gewaltig irren. Wenn aber ein Staat fälschlicherweise einen Angriff erwartet, könnte er einen Atomwaffenangriff als erster beschließen. Der Gegenschlag wäre gewiss.“
Nicht mehr Automatisierung, sondern gesunder Menschenverstand und mehr Zeit um nukleare Entscheidungen abzuwägen seien nötig, meint SIPRI-Experte Vincent Boulanin. Nur so habe man während des Kalten Krieges verhindern können, dass Fehlalarme zu einem Atomkrieg eskaliert seien.
Die mit neuen Technologien einhergehenden nuklearen Gefahren müssten dringend Bestandteil von Gesprächen und Verhandlungen zwischen den Atommächten werden, fordern viele Experten. Vorbild könnte der Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen sein, der 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossen worden war. Die Vereinbarung wurde aber 2002 von US-Präsident George W. Bush einseitig gekündigt. Für Ulrich Kühn vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik ist dieser Vertrag ein Muster, das auch für den Einsatz von KI – also Künstlicher Intelligenz – im Zusammenhang mit Atomwaffen anwendbar sei: „Ein solcher Vertrag, der sagt: wir erlauben KI in unserer nuklearen Systemen nur an bestimmten Stellen und nur in einem begrenzten Umfang und wir halten uns auch beide daran. Denn wir müssen sonst befürchten, dass das Prinzip der gegenseitigen gesicherten nuklearen Vernichtung ausgehebelt wird und damit die strategische Stabilität bedroht ist.“
Doch gegenwärtig sind vor allem die USA, aber auch andere Atommächte, nicht zu neuen nuklearen Rüstungskontrollvereinbarungen bereit. Ein Erfolg wäre es deshalb schon, wenn die Atommächte überhaupt wieder anfingen, über Nuklearwaffen zu reden und dabei auch die Risiken von Cyberwaffen und Künstlicher Intelligenz für die nukleare Stabilität zum Thema machten. Eigentlich wäre aber noch weit mehr notwendig, sagt Frank Sauer von der Bundeswehr-Universität in München: „Man kann beispielsweise die nuklearen Streitkräfte in geringere Alarmzustände versetzen, um erst einmal, wenn eine Krise im Raum steht, beiden politischen Seiten mehr Denk-Zeitraum zu verschaffen. Man könnte sagen: wir werden nie die ersten sein, die mit Nuklearwaffen angreifen. Man könnte keine Zielkoordinaten in die Waffen laden, sodass einfach alles länger dauert.“
Solche Ideen zur Reduzierung einer Atomkriegsgefahr gibt es schon seit vielen Jahren. Doch trotz Zunahme der Risiken durch neue Technologien sind gegenwärtig nicht einmal Gespräche über solche Vorschläge absehbar.
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“, NDR-Info, 25.7.2020.
Schlagwörter: Atomkriegsgefahr, Jerry Sommer, neue Technologien, Nuklearwaffen, Zweitschlagsfähigkeit