23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Plausibilitätsverlust

von Hermann-Peter Eberlein

Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im Juni unter dem Titel „Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ eine Art Strategiepapier für ihre zukünftige Ausrichtung vorgelegt. Nach der Veröffentlichung der Kirchenaustrittszahlen von 2019 und angesichts zu erwartender Kirchensteuerrückgänge von 15 bis 20 Prozent in diesem und in den kommenden Jahren scheint der Zeitpunkt der Veröffentlichung geradezu eine Punktlandung zu sein – dabei wurde die Arbeitsgruppe von etwas über einem Dutzend Menschen aus den Leitungsgremien der Kirche und ihrem Umfeld, der sich die Schrift verdankt, bereits 2017 von der Synode installiert. In der Tat scheint manches an diesem Entwurf passgenau die derzeitige Situation zu treffen – allerdings wird der entscheidende Grund für den Niedergang der Volkskirchen in unserem Land und in ganz Westeuropa zwar benannt, doch nicht weiter verfolgt. Damit sind die in vieler Hinsicht wegweisenden und treffenden Vorschläge und Perspektiven – die freilich nur kirchliche Insider interessieren dürften – wieder einmal nur ein Laborieren an Symptomen, statt den Kern des Problems anzupacken.

„Christlicher Glaube hat für viele Menschen an Plausibilität und Relevanz verloren“ – so lautet der dritte Satz des Papiers. Genau darum hätte es nun gehen müssen: warum das so ist und ob und wie man es ändern kann. Denn in der Tat: die Kirchenaustritte und die damit verbundene Finanzkrise der großen Kirchen und ihr rapider Verlust an gesellschaftlicher Relevanz sind Folge des Plausibilitätsverlustes der christlichen Lehre und christlicher Glaubensüberzeugungen, wie sie Europa anderthalb Jahrtausende lang geprägt haben.

Worin nun liegt dieser Plausibilitätsverlust einer Religion, die doch einst, in den unsicheren Zeiten der Spätantike, plausibler erschien als religiöse oder popularphilosophische Alternativen? Ich gehe dem anhand des in den Kirchen beider Konfessionen am häufigsten benutzten sogenannten „Apostolischen“ Glaubensbekenntnisses nach, das man wohl als eine Art Kompendium des christlichen Glaubens betrachten kann, und komme auf fünf Punkte: die psychologische Destruktion des Gottesbegriffs, die naturwissenschaftliche Destruktion des Glaubens an einen persönlichen Schöpfer, die historische Destruktion des christologischen Dogmas, die moralische des Kirchenbegriffs und die metaphysische der Jenseitsvorstellungen. Alle hängen miteinander zusammen und sind letztlich Folgen einer jahrhundertelangen kritischen Aufklärungsarbeit, wie sie in Westeuropa sein dem 17. Jahrhundert unternommen wurde.

  1. Der Glaube an Gott, mit dem der Text des Glaubensbekenntnisses beginnt, ist in der Weise, wie ihn Kirchenlieder und Bekenntnisformeln, Gebete und Bibeltexte formulieren, nicht mehr nachvollziehbar. Spinoza hat den persönlichen Gott durch einen Pantheismus ersetzt, den man als atheistisch bezeichnen konnte und der die klassische deutsche Philosophie zutiefst geprägt hat; Feuerbach hat den Glauben an einen solchen Gott Projektion genannt, Freud ihn als Illusion entlarvt. Das ist Gemeingut unserer Gesellschaft geworden mit Ausnahme frommer Randgruppen innerhalb oder außerhalb der Kirchen und solcher Kreise, deren Kultur von dieser spezifischen Form der Aufklärung unberührt geblieben ist.
  2. Damit fällt der naive Glaube an den persönlichen Schöpfergott, wie ihn das Glaubensbekenntnis anhand der biblischen Schöpfungsgeschichte voraussetzt. Zwar können Physik und Astronomie derzeit kein kosmologisches Modell vorlegen, das alle Fragen beantwortete, zwar kann – oder vielleicht muss – man als Physiker oder Astronom eine Frömmigkeit demütigen Staunens entwickeln, wie sie Albert Einstein eigen war – aber das ist eben nicht der Glaube an den biblischen Schöpfergott klassischer christlicher Theologie.
  3. Die beiden wichtigsten Dogmen des Christentums: das von der Gott-Menschlichkeit Jesu Christi, und, daraus folgend, das von der Drei-Einigkeit Gottes als Vater, Sohn und beide verbindender Geist, wie sie sich im Glaubensbekenntnis finden, sind durch die historisch-kritische Forschung vornehmlich protestantischer Gelehrter im 18. und 19. Jahrhundert als Produkte spätantiker Begriffs-Logik verstanden und relativiert worden. Anfangen können damit selbst viele Theologen wenig. Zwar gibt es seit zwei Jahrhunderten spannende und revolutionäre Neuinterpretationen, aber sie finden sich im kirchlichen Leben nicht oder immer nur als Interpretation von Texten wieder, die in gewohnter Bildsprache die kirchlichen Liturgien, Lesungen und Gebete bestimmen.
  4. Damit ist zugleich die Kirche als mystischer Leib des himmlischen Christus und somit als Glaubensgegenstand obsolet. Bliebe eine moralische Begründung der Kirche als einer „Gemeinschaft der Heiligen“ – die aber wird nach fünfzehn Jahrhunderten kirchlicher Gewalttaten und vertuschter Skandale niemand ernstlich erwägen.
  5. Bleibt als vielleicht wichtigster Punkt der Verlust des Jenseitsglaubens, einer metaphysischen – mit Nietzsche zu reden – „Hinterwelt“. Damit fällt dann nämlich auch der Glaube an ein „ewiges Leben“ weg und mit ihm die Angst vor dem göttlichen Gericht und das Bedürfnis nach Erlösung von Sünde und Schuld durch einen göttlichen Mittler, um in diesem Gericht zu bestehen. Das aber ist es, was das Christentum in seinem Kern zu bieten hat: Sündenvergebung und ewiges Leben.

Einer großen Mehrheit von Menschen in West- und Mitteleuropa ist aber genau das egal. Sie können weder mit einer persönlichen Gottheit etwas anfangen noch mit einem gott-menschlichen Erlöser, durch den sie ewiges Leben erlangen. Sie brauchen keine Sündenvergebung, weil sie an das göttliche Gericht nicht glauben, und sie wollen kein ewiges Leben, weil ihnen das irdische reicht. Wer aber keine Sündenvergebung braucht und kein ewiges Leben will, der braucht auch keine Kirche.

Hier liegt der Kern des Problems der Kirchen. Statt sich dem aber zu stellen, ist in dem Strategiepapier der EKD von Mission und Ökumene die Rede, von Digitalisierung und Öffentlichkeit, von Leitung, Kirchenentwicklung und Strukturen – und auch von vorausgesetzter Frömmigkeit. Vieles davon ist neu und durchaus spannend – aber eben nur für Kircheninteressierte. Ich vermute, dass die geistesgeschichtlich prägenden Gründe für den Plausibilitätsverlust des christlichen Glaubens deswegen von den Kirchen gerne ausgeblendet werden, weil man sich eingestehen müsste, dass diese Entwicklung innerhalb unseres kulturellen Mehrheitsmilieus unumkehrbar ist. Wir leben nicht in den festgefügten Traditionen orthodoxer Kirchen des Ostens und sind auch nicht Teil einer Religionskultur amerikanischer Provenienz, die modernsten technischen Fortschritt mit biblischem Fundamentalismus zu einer intellektuell ungenießbaren Mischung zusammenrührt. Zum Glück! Die Grundlagen des Christentums in der Spätzeit des Römischen Reiches waren die Furcht vor einem göttlichen Gericht und das Elend des irdischen Lebens. So ist es bis heute. Wohl dem, der beides nicht kennt!