Silberne Disteln stechen in bronzefarbene Waden, Brennnesseln ins Dekolleté. Weiter geht`s durch Gebüsch! Ragt mein Afrohaar aus den Margeriten heraus? Der Wächter darf mich nicht entdecken! Prüfend vergleicht der Wächter den Stand seiner Armbanduhr mit dem Glockenschlag vom Kirchturm. Nichtsahnend. Mein Herzklopfen hinter den Gräsern bleibt ihm ebenso verborgen wie die fünf Rebellen in der Kirchturmspitze. Zehn Kubikmeter Hecke trennen mich noch von der Kirchentür. Die kratzenden Dornen machen nur ihren Job. Röslein wehrte sich und stach, half ihm doch kein Weh und Ach, musst es eben leiden. Goethe hat`s gewusst. Schon vor 230 Jahren wusste er, dass ihr nicht den Hauch einer Chance haben werdet! Ihr Heckenrosen, Silberdisteln, Schlüsselblumen und rauschenden Ulmen, ihr Fledermäuse, Rebhühner, Blindschleichen und weißbauchigen Kaninchen – ihr alle seid so gut wie tot.
Die Menschen sind vor euch gegangen. Die ersten hat man mit dem meisten Geld gelockt und klug genannt. Für die Bleibenden waren sie Verräter, aber schließlich sind auch die Bleibenden nicht geblieben. Meine Eltern hat das neue Haus letztlich überzeugt: Null Sanierungsbedarf, Carport, Einbauküche. Keine Seele, aber okay, man kann halt nicht alles haben. Nur Malte und seine Familie sind noch hier, um die letzten Geheimnisse unseres Geisterdorfes vor den Wächtern der Kohlefirma zu bewachen. Man wird ihre Familie vom Hof schleifen müssen, sagt Maltes Vater. Das wird Knochenarbeit; Malte, seine Brüder und Eltern verfügen über jahrelange Erfahrung im zivilen Ungehorsam. Und doch gibt es kaum Kämpfe, die sie gewonnen haben. Eiserne Klauen werden unser Dorf zermalmen und meine Kirche zertrümmern. Unser Ort wird sterben. Kraft des Gesetzes.
Ich ziehe mein geheimes Duplikat des Kirchenschlüssels aus der Tasche. Noch einmal halte ich nach dem Wächter Ausschau. Dann schließe ich die Tür auf und schlüpfe ins Kircheninnere. 80 Stufen trennen mich von meiner Clique. Nur Jonas fehlt noch. Ganz nach Plan. Die stumm aus einem der Kirchturmfenster starrende Klara umarme ich zuerst. „Na Leute, was gibt’s?“ „Na was wohl, Bruni?! Milchkaffee.“ Malte grinst und drückt mir einen Mehrweg-Becher in die Hand. „Muh Latte für unsere Mulattin.“ „Keine rassistischen Bemerkungen“, warnt Hajo. „Bruni hat beim Aufstieg ein deutsches Volkslied gesungen. Ihr wollt nicht wirklich, dass sie glaubt, hier oben damit weitermachen zu müssen.“ Ich knuffe Hajo in die Seite, dann wende ich mich Florian und Pia zu. Meine Clique lässt mich im Kleinen das Unendliche spüren und die Begrenztheit des Großen vergessen. Sie lässt mich über Worte lachen, die mich anderswo lähmen. Das Wort Mulatte zum Beispiel. Es umschreibt das Phänomen, dass ich für die Weißen eine Schwarze, und für die Schwarzen eine Weiße bin. Mein Opa stammt aus Nigeria, ein leidenschaftlicher Musiker, in dessen Fußstapfen ich später treten will. Um auf die zahlreichen deutschen Anteile in meinem Genpool hinzuweisen, verpassten mir meine Eltern einen althochdeutschen Namen. Brunhild. Brunhild mit Bronzehaut und Kraushaar. Seit nunmehr 18 Jahren müssen meine Eltern und ich Fremden gegenüber erklären, warum ich deutsch spreche. Die Antwort, deutsch zu sein, zählt leider nicht.
„Bruni Obruni“, raunt Malte. Ich verliere mich im Blau seiner Augen. Es sind die Augen, die ich schon liebte, als wir alle noch im Sandkasten spielten. Wir, die Bullerbü-Kinder am Rande des Braunkohletagebaus. „Obruni?“, fragt Pia. „Bruni ist auf eine neue Deutung ihres Spitznamens gestoßen“, erklärt Malte und legt einen Arm um meine Schulter. „Erzähl doch mal den anderen, was man im Internet unter einer Obruni versteht.“ „Eine Fremde“, antworte ich. Die noch immer auf das Braunkohlerevier hinabblickende Klara seufzt. „Unsere Heimat zerfällt in Staub und Kohlendioxid. Macht uns das nicht alle zu Fremden?“ „Als Obruni wird auch jemand bezeichnet, dem man nicht trauen kann“, füge ich hinzu. Ein nervöses Schweigen breitet sich im Turm aus. Meistens sind wir uns einig, ziehen an einem Strang bei Demos, Petitionen, Klimacamps, Fridays for future… Mit dem Albrecht-Projekt ist es anders. Eigentlich haben wir alle moralische Bedenken. Alle bis auf Malte, der seine Idee nach wie vor brillant findet. Wir tun fast immer, was Malte sagt.
„Wie läuft es denn so mit Albrecht?“, fragt Pia schließlich. „Wir sehen uns“, erwidere ich, ohne ihr in die Augen zu blicken. „Wir machen zusammen Musik.“ Florian schüttelt den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass du das tust, Bruni! Das sind Nazi-Methoden, Stasi-Strategien würde mein Vater sagen, dieser ganze verlogene Spionage-Kram…“ „Reg dich ab“, knurrt Malte. „Es funktioniert. Dank V-Frau Bruni wissen wir, wie genau die Entwidmung unserer Kirche morgen ablaufen soll. Albrechts Papi, Kohleguru der Nation, wird im Kirchhof eine seiner selbstgefälligen Reden halten. Wir werden hier drinnen alles vorbereiten können. Ungestört. Und wenn der kleine Albrecht dann zur Trompete greift, um mit seinen drei Thomanerfreunden das Lied vom Tod zu spielen, hängt das Banner längst in der Kirche. Für alle sichtbar und vor allem unantastbar. Das ist es doch, was du für deine Kirche willst, nicht wahr, Bruni?“ Ich nicke.
„Wir würden das auch hinbekommen, ohne dass Bruni den Kohle-Junior anbaggern muss“, zischt Florian. Schweigen. „Im Zusammenhang mit dem Scheißtagebau finde ich das Wort Anbaggern irgendwie geschmacklos“, sagt Klara zur Fensterscheibe. „Ich hätte Albrecht ja auch zufällig begegnen können“, werfe ich ein. „Ja, klar“, höhnt Florian. „Obwohl du neu in Leipzig warst, bist du zufällig vom ersten Abend an in der Szene-Bar der Thomaner gelandet. Du interessierst dich zufällig für Albrechts Bluesmusik, wobei du zufällig auch noch wie eine Bluesmelodie aussiehst. Zufällig hast du begonnen, Kirchenmusik zu studieren, was für einen Sängerknaben wie Albrecht ein Wink des Himmels sein muss. Und du spielst Orgel, genau wie er, was in unserem Alter nicht gerade ein Breitensport ist. Welche Fügung! Bruni täuscht und bespitzelt einen Minderjährigen, nur weil sein Vater Boss der Kohlefirma ist. Ist irgendjemand unter euch, der sich seine Eltern aussuchen konnte?“ Wieder Schweigen. „Ich finde nicht, dass man mit 17 besonders minderjährig ist“, meint Pia.
„Albrecht ist kein Unschuldslamm, Florian.“ Maltes Stimme ist dunkel und unerschütterlich, die Stimme eines Schlangenbeschwörers. „Weißt du, welches Werk Albrechts weltbekannter Knabenchor heute aufführt? Die Schöpfung! Das Oratorium von Joseph Haydn. Nur einen Tag, nachdem er die Erschaffung der Welt besungen hat, wird Albrecht an der Seite seines Vaters eine Gedenkfeier zur Zerstörung eben dieser Schöpfung musikalisch untermalen. Mit seiner Trompete, die er bereits durch wer weiß wie viele heilige Gotteshäuser geschleppt hat, begleitet er die Entwidmung unserer Kirche. Weil nicht heilig sein kann, was nicht heilig sein darf. Weil Profit die Zerstörung von Leben rechtfertigt. Und wie sah unser Protest gegen diese Zerstörung bisher aus? Na? Wir haben Kerzen angezündet, Reden und Mahnwachen gehalten, Unterschriften gesammelt. Freitags gingen wir ein paar Stunden nicht zur Schule, was dem Lehrermangel im Grunde nur entgegenkam. Und was haben Albrechts Vater und dessen Freunde getan? Sie haben Leute bestochen, Versprechen gebrochen und unsere Familien gegeneinander aufgehetzt. Unter diesen Umständen ist es doch wohl mehr als gerechtfertigt, dem Zufall ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Man muss den Feind kennen. Mit Friede-Freude-Eierkuchen ist hier nicht viel zu holen.“ „Der ganze Umbruch von `89 war friedlich“, gibt Florian zu bedenken. „Ja, das war er“, erwidert Malte. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Aber glaubst du wirklich, es macht für die Pflanzen und Tiere hier, ja für den ganzen Planeten, einen Unterschied, ob das Leben nun dem Sozialismus oder dem Kapitalismus geopfert wird? Ich will das, was wir bisher getan haben, nicht kleinreden. Ich bin mit den Greta Thunbergs dieser Welt. Ich würde ihrer Stimme nur gern etwas mehr Nachdruck verleihen.“ „The knights of Greta Thunberg“, tönt Hajo. „Gretas Ritter. Wär doch ein cooler Name für uns.“
„Werden wir jetzt Öko-Terroristen, oder wie?“, fragt Pia mit hochgezogenen Augenbrauen. „Kidnappen wir donnerstags die Politiker, die die Forderungen vom letzten Freitag ignoriert haben?“ Florian schüttelt den Kopf: „Gewalt ist die Waffe der Schwachen! Gewaltlosigkeit ist der wahre Kampf, echter als der gewalttätige Gegenschlag, der nur neuen Hass erzeugt. Sagt Mahatma Gandhi.“ „Ein wahrer Ritter sollte in seiner moralischen Gesinnung edel und rein sein. Sagt Wikipedia.“ Klara präsentiert das Ergebnis ihrer Internetrecherche auf dem Smartphone. Seit sie sich vom katastrophalen Panorama des Kirchturmfensters abgewendet hat, kehrt das Leben in sie zurück. „Was wir für morgen geplant haben, ist edel, rein und nachdrücklich, Ritter Malte. Neben dem Kohleguru und seinem Musterknaben wird es in dieser Kirche morgen vor Menschen wimmeln, denen die ganze Scheiße hier inklusive Fucking-Klimawandel komplett am Arsch vorbeigeht. Aber morgen können sie uns nicht ignorieren. Und sie werden definitiv zugänglicher sein, Malte, wenn du keinen Molotowcocktail nach ihnen wirfst.“
„Jonas wartet unten“, verkündet Hajo mit Blick auf sein Handy. „Er hat alles dabei.“ Schon stürmen die Ritter die schmale Wendeltreppe hinunter. Florian versperrt mir den Weg. „Wer A sagt, muss nicht B sagen, Bruni! Lass diesen Albrecht in Ruhe!“ „Es ist okay, wie es ist, Flo“, erwidere ich und blicke ihm fest in die Augen. Florian muss nicht wissen, dass ich seine Bedenken teile. Der Zweck wird die Mittel heiligen und Maltes Seite war schon immer die sichere Seite. Wie bei dem Vorfall im Club. Der blasse Typ im Lederoutfit, der mit der Hand über meine nackte, braune Schulter fuhr, bekam von Malte kurzerhand eine runtergehauen. „Du bist nicht im Streichelzoo, Mann!“, hatte Malte gebrüllt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was genau danach passierte. Auf jeden Fall waren jede Menge Leute involviert. Später erhielt ich die volle Aufmerksamkeit der Presse: „Massenprügelei um ein farbiges Mädchen!“ Welch Sensation! Ostdeutsche Jugendliche vom Lande verprügeln keine Ausländer, nein: sie prügeln sich um sie! Das ist gelebte Willkommenskultur! Die Tatsache, dass die vermeintliche Ausländerin Brunhild jede Sekunde ihres bisherigen Lebens in Deutschland verbracht hatte, wurde nicht erwähnt. Am Ende jenes Abends habe ich mit Malte auf einem Polizeirevier rumgeknutscht. Seither warte ich vergeblich darauf, dass wir das wieder tun. Ich, Bruni Obruni. Die einheimische Fremde. Die schwarze Weiße. Die, der man nicht trauen sollte. Der Name ist Programm.
Es ist der Tag Null. Der Tag der Kirch-Entwidmung. Mit dem Abrissbagger in Sichtweite schwärmt Albrechts Vater von den Vorzügen des Kirchenneubaus in dem uns zugewiesenen Reservat: Null Sanierungsbedarf. Dunstabzüge auf den WCs. Gedämpfter Applaus zeugt vom Ende der Rede. Im Takt zu Albrechts Musik strömen die ersten Gottesdienstbesucher in die Kühle der jahrhundertealten Mauern. Und erstarren. Unantastbar schwebt der meterlange Helium-Zeppelin an der Kirchendecke. Der riesige Schriftzug ist unübersehbar: Wer diese Kirche entweiht, entweiht Gott, das Leben und sich selbst. Mein Slogan ist nicht besonders windschnittig, aber eindeutig. Ich kann nicht glauben, dass unser Pfarrer es unter dieser Überschrift fertigbringen wird, die Liturgie zur Entwidmung zu sprechen. Wo ist der Pfarrer überhaupt? Und wo sind die Pressefritzen? Meine Nerven liegen blank. Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan. Zu groß war die Sorge, der gestern von uns mit Gas befüllte und auf der Empore versteckte Zeppelin könnte über Nacht platzen. Für die stabilere Outdoor-Variante eines Werbezeppelins hat unser Geld nicht gereicht. Doch alles ist gutgegangen. Warum kann ich nicht normal atmen?
Im Nacken spüre ich seinen Blick zuerst. Er packt mich wie eine eiserne Hand. Mit zu zwei Schlitzen verengten Augen hat der Kohleguru den Zeppelin fixiert, um sich nun an mir festzusaugen. Hat ihm jemand von einer dunkelhäutigen Umweltaktivistin berichtet? Was wird Albrecht seinem Vater über mich erzählt haben? Dass ich mich flirtend nach den Kohlegeschäften erkundige? Herr Fikus vom Kirchvorstand taucht neben Albrechts Vater auf. Was haben die beiden zu flüstern? Erneut wandern ihre Augen zum Zeppelin. Dann bahnt sich Herr Fikus einen Weg entgegen der hereinströmenden Menschen und ist verschwunden.
Albrechts Vater tritt so nah an mich heran, dass ich die Mischung aus Schweiß und Deo rieche. Gott sei Dank spüre ich Klaras Hand auf meinem Rücken. „Ihr habt Mut, Mädchen“, flüstert der Kohleguru beinahe zärtlich. „Ich schätze das. Aber der Geist ist nicht auf eurer Seite.“ Albrechts Vater lächelt. „Scheiße, warum lachen Sie?!“, bricht es aus Klara heraus. Etwas in mir schlägt Alarm. Was genau ist es? Kirche und Geist? Da ist kein Gespenst gemeint. Der Geist Gottes? Das Pfingstfest, der Heilige Geist mit dem Symbol der Taube? Die Erkenntnis trifft mich mit der Wucht einer Ohrfeige. „Malte! Hajo!“, schreie ich in Richtung der auf die Presse lauernden Ritter. „Herr Fikus aktiviert die Taube!“ Mit unglaublicher Geschwindigkeit jagen die Jungen die Treppe hinauf. Zu spät. Die Luke an der Kirchendecke öffnet sich, die gusseiserne Taube schwingt in den Kirchenraum. Herr Fikus hat den Mechanismus selbst entworfen, ein Andenken an seinen Urlaub in Tirol. Genau wie in der Pfarrkirche von Söll pendelt seither zu jedem Pfingstfest eine Taube an unserer Kirchendecke. Zielsicher schlägt die Kante eines Taubenflügels in den Rücken des Zeppelin. Das Bild des zusammensackenden Ballons verschwimmt vor meinen Augen, während das Zischen meine Ohren erfüllt. Es ist mein ganz persönlicher Supergau.
Als ich die Augen wieder öffne, steht Albrecht mit seinen Thomanerfreunden vor mir. Schmächtiger als sein Vater, aber nicht weniger entschlossen. „Willst du mit uns Musik machen, Bruni?“, fragt er. Instinktiv werfe ich mich vor Malte, der drauf und dran ist, Albrecht an die Gurgel zu springen. „Habt ihr sie noch alle?“, brüllt Malte. Albrechts drei Freunde lassen ihre Instrumente sinken und positionieren sich an Albrechts Seite. Ich habe den Kodex des Knabenchors unterschätzt. Offensichtlich erklärt man 89 Sängern den Krieg, wenn man einen von ihnen ausspioniert. Bitte keine neue Schlägerei! Nicht an dem Ort, der mir heilig ist!
„Wie werden ununterbrochen spielen, ein paar Stunden lang“, sagt Albrecht. „Kein Mensch wird heute auch nur ein Wort davon verstehen, was euer Pfarrer sagen will.“ „Ihr boykottiert… die Entwidmung?“, fragt Malte ungläubig. Albrecht nickt. „Mit Trompete, Posaune, Horn und Pauke. Vielleicht will uns Bruni an der Orgel unterstützen?“ „Natürlich wird sie das! Bruni hat 1000 Pfeifen am Start!“, ruft Malte. „Sie werden den Strom abstellen“, warnt Albrecht. „Ihr müsst jemanden ins Innere der Orgel schleusen, der den manuellen Antrieb übernimmt.“ „Ich weiß, wie das geht!“, schaltet sich Florian ein. Albrecht nickt. „Außerdem sollte jemand darauf achten, dass man Bruni nicht einfach wegdrängt.“ „Machst du Witze, Junge? Ich habe mehr als 20 Aktivisten hier. Uns schiebt so schnell keiner beiseite. Auch eure Blaskapelle müssen wir schützen. Nicht, dass dein Papi dich unter den Arm klemmt und nach Hause trägt.“ Dann hält Malte inne. „Dein Vater grillt dich… Warum tust du das?“ Albrecht zuckt mit den Schultern. „Kirchen entwidmen ist wie Bücher verbrennen.“
Ich sitze oben an der Orgel. Albrecht, seine Freunde und jede Menge Ritter stehen an meiner Seite. Langsam lasse ich meine Hände auf die Tasten sinken, auf den Ort, wo schwarz und weiß zusammengehören. Der Junge an der Pauke besteht darauf, dass wir die Höhepunkte des Weihnachtsoratoriums präsentieren. Dreißig Minuten lang. Im Gedenken an die Ungeheuer von Braunkohlebaggern folgt Flying Theme aus Drachen zähmen leicht gemacht. Mithilfe des Spiegels, der an der Orgel angebracht ist, kann ich das Geschehen genau verfolgen. Die Geistes-Taube schwingt über Klara und Pia, die sich mit dem ramponierten Zeppelin-Spruchband fotografieren lassen. Tumult herrscht im Altarraum. Wir spielen We are the world und Talking about a Revolution. Ich halte mit Albrecht Blickkontakt, während ihn sein Vater anzuschreien beginnt. Tanzend und lachend schiebt sich Malte dazwischen, jede Menge Worte rufend, die den Kohleguru nur noch mehr brüllen lassen. Albrecht stimmt Nneka an. Woher weiß er überhaupt, dass ich nigerianische Soulmusik an der Orgel spiele? Ich sehe, wie mir unser Pfarrer von unten zuzwinkert, sehe, wie seine Lippen ein stummes Weiter, Bruni! formen. Es ist der Moment, in dem ich weiß, dass wir gewonnen haben. Zumindest dieses eine Mal.
Ich habe Duplikate vom Kirchenschlüssel, Albrecht hat Zweitschlüssel zum Braunkohlerevier. Das Leben folgt einer gewissen Logik, auch in der Nacht des Tags Null. Unsere Clique zur nächtlichen Besteigung des Drachenbaggers einzuladen, ist gewagt. Denkbar, dass Malte in der Stahlkonstruktion eine Ladung Dynamit hinterlässt. Doch Malte kam mit leeren Händen. Es ist Albrechts Gelassenheit, die ihn entwaffnet. „Wie läuft`s mit deinem Vater?“, frage ich Albrecht während wir uns in schwindelerregender Höhe niederlassen. „Er redet nicht mit mir. Aber meine Mutter sagt eine Menge. Sie versucht, ihn an seine eigenen Rebellenjahre zu erinnern.“ „Dein Vater war ein Rebell?“ „1991. Er hat ziemlich aktiv gegen den zweiten Irakkrieg protestiert.“ „Dein Vater?“ Albrecht lacht. „Hey, Bruni! Kein Mensch macht im Leben alles falsch.“ „Oder alles richtig“, füge ich kleinlaut hinzu. Albrecht grinst. „Ach was. Hast du mir etwas zu sagen?“ „Ich meine, ich…, also du…“ Tief durchatmen. „Wusstest du von Anfang an, dass mich jemand auf dich angesetzt hat?“ „Das war offensichtlich. Du bist eine geniale Musikerin. Aber mit der Schauspielerei ist es nicht so weit her.“ „Es… tut mir leid“, murmle ich mit Blick auf den gähnenden Abgrund unter uns. Am Anfang war die Welt wüst und leer. Vielleicht wird das Ende wieder wüst und leer sein. Was ist das heute? Anfang? Ende? Wende? „Und was machen wir jetzt, Albrecht?“ Seine Hand legt sich auf meine. „Leben, Bruni. Einfach leben.“
Annegret Mühl, Jahrgang 1979, Sozialarbeiterin und Jugendbuchautorin, lebt in Dresden. Die Geschichte „Gretas Ritter“ wurde erstmals 2019 während eines Klimacamps in der Kirche des von der Abbaggerung bedrohten Ortes Pödelwitz (Südraum Leipzig) gelesen.
Schlagwörter: Annegret Mühl, Kurzgeschichte