Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …“ – mit diesen Zeilen beginnt das wohl berühmteste deutsche Gedicht des 20. Jahrhunderts: „Todesfuge“ von Paul Celan. Das Gedicht – bekannt auch durch die Zeile „… der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ – wird gelesen, rezitiert, analysiert oder zitiert, dabei war es der eindrucksvolle Versuch, das Grauen des Holocausts mit lyrischen Mitteln zu fassen.
In diesem Jahr ist sowohl der 50. Todestag als auch der 100. Geburtstag von Paul Celan zu begehen. Aus diesem Anlass hat der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr eine Biographie des Gedichtes „Todesfuge“ vorgelegt, in der er dessen Geschichte rekonstruiert. Zwischen Ende 1944 und Anfang 1945 (in Czernowitz oder wenige Monate später in Bukarest) entstanden, erschien das Gedicht – zwar in deutscher Sprache verfasst – zunächst in rumänischer Übersetzung unter einem anderen Titel („Todestango“). Bald darauf fand es Aufnahme in dem Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“. Dieser erste Gedichtband Celans, im Wiener Verlag A. Sexl 1948 erschienen, wurde allerdings vom Autor wegen der zum Teil sinnstörenden und nicht immer als solche erkennbaren Druckfehler zurückgezogen. Erst 1952 mit der Veröffentlichung in dem Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ (DVA Stuttgart) begann die Popularität des Gedichtes.
Das Gedicht, das Celan berühmt machte, hat ihn bis zu seinem Lebensende über ein Vierteljahrhundert verfolgt. So war die erste, halböffentliche Lesung auf einer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952 ein „Reinfall“. Nach einigen weiteren Lesungen hat Celan das Gedicht später nicht mehr vorgetragen, sich sogar gegen Veröffentlichungen in Anthologien gesperrt. Und doch hat sich die „Todesfuge“ immer weiter verbreitet und wurde zu einem der meistübersetzten Gedichte deutscher Sprache.
Die „Todesfuge“ gilt keineswegs als typisches Celan-Gedicht, sondern als ein Frühwerk des Lyrikers. Anfänglich wurden die fragwürdigen Anspielungen des Gedichts kritisiert, die es angeblich erlaubten, die beschriebenen Grauen zu beschönigen. Celan griff bei der Beschreibung des jüdischen Schicksals in den Todeslagern jedoch nur auf vertraute Stilmittel und dichterische Traditionen zurück. Erst in den 1990er Jahren erkannte man, dass sich das Gedicht auch auf das Thema „Musik im Konzentrationslager“ bezog, das zuvor in der Shoa-Forschung nur am Rande behandelt wurde. Musik war unter anderem als Hintergrundmusik des Mordens eingesetzt worden. So waren in Lublin und anderen Todeslagern Häftlinge gezwungen worden, zu musizieren und zu singen, während andere ihre eigenen Gräber schaufeln mussten. Später erklang Tanzmusik aus Lautsprechern, um das Knattern der automatischen Pistolen zu übertönen. Auch Celans Mutter war 1942 durch Genickschuss getötet worden, während der Vater wahrscheinlich an Typhus gestorben war.
Neben der Geschichte des Gedichtes beleuchtet Sparr auch den Lebensweg von Paul Celan, der als Paul Antschel (aus der rumänischen Schreibweise Ancel wurde per Anagramm der französische Autorenname Celan) am 23. November 1920 in Czernowitz (Großrumänien, heute Ukraine) geboren wurde. Hier besuchte er die Schule und das Gymnasium. Er war in mehreren Sprachen – Deutsch, Rumänisch, Französisch, Englisch und andere – zuhause, sodass er später auch als Übersetzer tätig war. Mit 16 Jahren schrieb er erste Gedichte. Im November 1938 reiste er nach Paris, um sich dort auf ein Medizinstudium vorzubereiten. Während eines Zwischenstopps in Berlin nahm er bereits die Pogromstimmung gegen die jüdische Bevölkerung wahr. Als er im Juli 1939 in den Sommerferien nach Czernowitz zurückkehrte, brach wenig später der Zweite Weltkrieg los, was seine Rückkehr nach Paris vereitelte. Um der drohenden Deportation zu entgehen, meldete sich Celan zum Arbeitsdienst, wo er zur Zwangsarbeit im Straßenbau herangezogen wurde. Im August 1944 kehrte er nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium wieder auf. Hier erfuhr er vermutlich erst vom Tod seiner Eltern.
1945 ging Celan nach Bukarest; als Verlagslektor übersetzte er russische Literatur ins Rumänische. 1947 floh er dann nach Wien, wo er Anschluss an Künstlerkreise fand und auf Ingeborg Bachmann traf. Ein Jahr später siedelte er nach Paris über, das seine zukünftige Heimat werden sollte. Zunächst schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1952 heiratete er die Malerin und Grafikerin Gisèle de Lestrange. In Paris lernte Celan auch das Schriftstellerehepaar Yvan und Claire Goll kennen und übersetzte einige Gedichte des jüdischen Dichters. Doch später erhob Claire Goll gegen Celan öffentliche (später nicht bestätigte) Plagiatsvorwürfe, was ihn psychisch schwer belastete. So musste sich Celan 1962 erstmals in eine psychiatrische Klinik begeben. In den folgenden Jahren folgten weitere Klinikaufenthalte. 1967 kam es schließlich zur Trennung von seiner Frau. Die Umstände und das Datum von Celans Tod sind bis heute nicht geklärt: vermutlich beging er am 20. April 1970 Selbstmord, indem er sich in die Seine stürzte. Sein Leichnam wurde erst Tage später und zehn Kilometer flussabwärts aus einem Flussfilter geborgen. Am 12. Mai 1970 wurde Celan auf dem Friedhof Thiais bei Paris bestattet. An demselben Tag starb in Stockholm mit Nelly Sachs (1891–1970) die andere große jüdische und deutschsprachige Lyrikpersönlichkeit. Die beiden Schicksalsverwandten hatten über einen Zeitraum von 16 Jahren (von 1954 bis Ende 1969) in einem regen und freundschaftlichen Briefwechsel gestanden, der 1996 als suhrkamp taschenbuch veröffentlicht wurde.
Viel wurde über Celans Selbstmord spekuliert. War es die gerade erfolgte Veröffentlichung des Gedichtes „Er“ des rumänischen, deutschsprachigen Dichters Immanuel Weißglas (1920–1979) angeblich aus dem Jahre 1944, in dem sich Motive der „Todesfuge“ befanden? War der dünnhäutige Celan von der Sorge vor neuen Plagiatsvorwürfen erfasst? Dem wäre er, dessen war er sich bewusst, nicht gewachsen. Sparr stellt am Ende die berechtigte Frage, warum hat Weißglas angesichts der weltweiten Verbreitung der „Todesfuge“ mit seiner Veröffentlichung fast ein Vierteljahrhundert gewartet? Weißglas selbst sah in der „Todesfuge“ kein Plagiat sondern die Antwort „Hölderlinscher Prägung“ auf sein Gedicht; die Anschuldigungen gegenüber seinem Landsmann und ehemaligen Klassenkameraden hat er als „schakalartiges Schnüffeln“ zurückgewiesen. Übrigens war am 14. März auch der 100. Geburtstag von Immanuel Weißglas. Eine Auswahl seiner Gedichte findet man in Heft 334 der bekannten Lyrikreihe „Poesiealbum“.
Thomas Sparr: Todesfuge – Biographie eines Gedichts, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, 336 Seiten, 22,00 Euro.
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