von Wolfgang Hochwald
Als ich mich kürzlich mit einer größeren Gruppe um die 30-Jähriger über Pete Seeger unterhalten wollte (Seeger hätte am 3. Mai dieses Jahres seinen 100. Geburtstag gefeiert), wurde deutlich, dass die große Mehrheit dieser Gruppe Seeger gar nicht kannte. Tatsächlich wird heute nur noch selten an den Folksänger und Aktivisten erinnert, der in den fünfziger Jahren einige Hitsongs als Mitglied der „Weavers“ hatte, der in der McCarthy-Ära auf der schwarzen Liste stand und der seit den Sechzigern bis zu seinem Tod im Januar 2014 ein prominenter Vertreter von Protestsongs war und sich für internationale Abrüstung, Bürgerrechte, die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterbewegung und schon sehr früh für Umweltprojekte einsetzte. Ich habe dies zum Anlass genommen, eine Auswahl historisch interessanter Protestsongs zu treffen und zu schauen, ob es dieses Genre auch heute noch gibt.
Unter den älteren Liedern, die sich gegen Autorität richten und soziale oder politische Missstände aufgreifen, darf Pete Seegers „If I Had a Hammer“ nicht fehlen: „Es ist der Hammer der Gerechtigkeit, es ist die Glocke der Freiheit, es ist das Lied über die Liebe zwischen meinen Brüdern und Schwestern.“ Klingt das heute naiv? „The Weavers“ hatten das Lied als Protest gegen die Strafverfolgung von elf Kommunisten der sogenannten „Fortschrittsbewegung“ geschrieben, denen Aktivitäten zum Sturz der US-Regierung vorgeworfen wurden, und das Lied erstmals im Juni 1949 bei einem Abendessen der Führer der kommunistischen Partei der USA aufgeführt. Das Lied kombiniert den Hammer aus der Fahne der Kommunistischen Partei der USA mit dem Symbol der amerikanischen Freiheitsglocke. Das Lied entwickelte sich zu einer Hymne der US-Bürgerrechtsbewegung, wurde vielfach interpretiert. Und ist heute eher als Partysong in der Fassung von Trini Lopez bekannt.
Das „Weavers“-Song „Which Side Are You On?“ war von der Bergarbeiterfrau und Streikaktivistin Florence Reece während der Streiks im US Harlan County in den 1930ern geschrieben worden. Es befasst sich mit dem sogenannten „Harlan County Krieg“ zwischen Bergarbeitern und der Gewerkschaft auf der einen und den Kohlefirmen und der Polizei auf der anderen Seite: „Man sagt, in Harlan County gibt es keine Unparteiischen mehr. Entweder bist du ein Gewerkschaftsmann oder ein Schläger von J. H. Blair. Auf welcher Seite bist du?“ Blair war der örtliche Sheriff, der auch die privaten Minenwachleute befehligte, die gemeinsam mit ihm gewaltsam gegen die streikenden Arbeiter vorgingen.
„Where Have All the Flowers Gone?“ ist vielleicht Pete Seegers Meisterwerk und unter den Anti-Kriegsliedern an vorderster Stelle zu nennen. Berückend auch Marlene Dietrichs deutsche Fassung „Sag mir, wo die Blumen sind“ von 1962: „Sag wo die Soldaten sind / über Gräber weht der Wind. / Wann wird man je verstehen? / Wann wird man je verstehen?“. Pete Seeger hat einmal gesagt, dass er den deutschen Text beeindruckender fände als seinen Originaltext und sich dieser auch besser singen lasse.
Deutliche Worte fand stets Pete Seegers Freund und das Vorbild der meisten Protestsänger – Woody Guthrie: „This machine kills fascists“ („Dieses Gerät tötet Faschisten“) stand auf seiner Gitarre und „Ich sage, all Ihr Faschisten werdet verlieren“ heißt es in seinem Text „All you Fascists“, den Billy Bragg und „Wilco“ im Jahr 2000 vertonten und dabei den Bogen über die im ursprünglichen Text angesprochenen deutschen Nationalsozialisten hinaus in die Gegenwart schlugen.
Als eines der wichtigsten Protestlieder aller Zeiten wird Billie Holidays „Strange Fruit“ angesehen, das 1939 erstmals aufgeführt und auf Platte aufgenommen wurde. In dem Lied, das die selbst unter Rassismus leidende Bluessängerin erschütternd vortrug, geht es um Lynchmorde an schwarzen Amerikanern. Nach konservativen Schätzungen wurden zwischen 1889 und 1940 fast 4000 Menschen gelyncht, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner. Die „Strange Fruit“ des Liedes ist der Körper eines Schwarzen, der an einem Baum hängt: „Die Südstaatenbäume tragen merkwürdige Früchte / Blut auf den Blättern und Blut an der Wurzel / Ein schwarzer Körper baumelt im Südstaatenwind.“ Das Lied brachte einem breiten Publikum das Thema Lynchjustiz überhaupt erst nahe und wurde von wichtiger Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung.
Immer wieder haben Songwriter auf aktuelle Themen reagiert. Das Lied „Ohio“ schrieb Neil Young, als er im Life Magazine Fotos von vier toten Studenten sah, die am 4. Mai 1970 an der Kent State University von „Ohio National Guardsmen“ erschossen worden waren. Young und seine Musikerkollegen David Crosby, Stephen Stills und Graham Nash eilten ins Studio und bereits eine Woche nach den Morden erschien die Single. Young scheute sich nicht, den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon selbst zur Verantwortung zu ziehen: „Zinnsoldaten und Nixon kommen / Jetzt sind wir auf uns gestellt / Diesen Sommer höre ich die Trommeln / Vier Tote in Ohio / Es macht mich fertig / Soldaten schlachten uns ab / Das sollte schon lange vorbei sein / […] Wie kannst du ruhig bleiben, wenn du das weißt?“
Ebenso schnell reagierte Woody Guthrie mit „Deportees“, einem Gedicht, das erst später vertont wurde, auf den Absturz eines Flugzeuges mit mexikanischen Wanderarbeitern über dem Los Gatos Canyon in Kalifornien am 28. Januar 1948. Guthrie beklagt, dass die verstorbenen Mexikaner, die nach der Ernte zurück in ihr Heimatland gebracht wurden, in der Presse als „just deportees“ (nur Deportierte) bezeichnet und im Gegensatz zu der amerikanischen Besatzung des Flugzeuges nicht namentlich genannt wurden. Eine besonders bewegende Aufnahme des Liedes stammt von Guthries Sohn Arlo aus dem Jahr 1974.
Mit der Situation der Flüchtlinge, die von Südamerika in die USA wollen, befasst sich Josh Ritter im musikalisch wie textlich großartigen Lied „All Some Kind of Dream“ von seinem diesjährigen Album. Ritter spielt mit dem Titel des Liedes offensichtlich auf Martin Luther Kings berühmte Rede an und schildert unter anderem die skandalöse Trennung der Kinder von ihren Eltern beim Grenzübertritt: „Ich sah die Kinder in den Lagern / Ich sah wie Familien auseinander gerissen wurden / Und obwohl ich es versuche / Kann ich nicht wissen, was dies in ihren Herzen auslöst / Es gab eine Zeit, in der wir für sie da waren / Und nicht so unmenschlich, schlecht und niederträchtig (cruel, low and mean) waren / Und wir gut zu dem Geringsten unter ihnen waren / Oder war das alles nur ein Traum?“
Im seinem aktuellen Lied „Fall der Fälle“ beschreibt Herbert Grönemeyer den Rechtsruck in Deutschland: „Es bräunt die Wut, es dünkelt / der kleine Mob macht rein / Es ist die Angst, die glaubt / sauber muss es sein / und immer brenzlig und gemein.“ „Keinen Millimeter nach rechts“ heißt es zum Schluss des Liedes, aber Grönemeyer verweigert nicht – wie ihm kürzlich nach einem Auftritt in Wien vorgeworfen wurde – den Dialog: „Verständnis ist nicht schlecht / aber kein Millimeter nach rechts bewegt / Es ist ein Geistesgefecht.“
Sind Ritter oder Grönemeyer Ausnahmen oder werden auch heutzutage noch vermehrt Protestlieder geschrieben? Auf der Website https://www.ongoinghistoryofprotestsongs.com/home/ wird die Geschichte der Protestmusik auf interessante Weise dargestellt und eine jährliche Liste mit „socially conscious songs“ (Lieder mit sozialem Bewusstsein) gepflegt, die sich auf dem Musik-Streamingdienst „Spotify“ unter dem Stichwort „Protest Songs of 2019“ finden lässt. Die Liste enthält mit Stand Ende September sage und schreibe 126 Protestsongs – Lieder wie „The Mueller Report“ von „Deena“, „Maximum Wage“ von „La Neve“, „Nothing Great About Britain“ von „slowthai“, „Immigrant Eyes“ von Willie Nelson oder „Liberty Is a Statue“ von Evan Greer.
Da sollte also auch was für die um die 30-Jährigen dabei sein, die Pete Seeger nicht mehr kennen.
Schlagwörter: Protestsong, Wolfgang Hochwald; Protestlied