22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Die EU-Wahlen und Russland

Ein Gastbeitrag von Veronika Krascheninnikowa, Moskau

Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben den rechtsextremen Kräften nicht den erwarteten großen Sieg gebracht. Mit 73 Abgeordneten bilden die rechtsextremen Parteien aus neun Ländern unter dem Namen „Identität und Demokratie“ die fünftgrößte Fraktion. Die Reaktion der russischen Parlamentarier und Medien auf die Ergebnisse der Extremrechten war zurückhaltend und beschränkte sich auf die Konstatierung der Fakten. Konstantin Kossatschow, Chef des Auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat, meinte, die einstige politische Tradition von Regierungen der Rechts- und Linkszentristen sei vorbei, was er mit der Hoffnung auf eine Verringerung des derzeitigen antirussischen Konsenses im Europaparlament und auf die Stärkung realistischer Kräfte verband. Sogar Senator Andrej Klimow, 2014 noch Gast des Kongresses des französischen Front National, zeigte sich zurückhaltend bei der Einschätzung der hohen Resultate der Ultrarechten in Frankreich: „Das sind Realitäten, an denen man nicht vorbeikommt. Davor darf man die Augen nicht verschließen, aber sich jemandem in die Arme zu werfen, würde ich auch nicht empfehlen.“
Während der Wahlkampagne konnten weder europäische Medien noch Geheimdienste Fakten für eine Einmischung Russlands finden. Dem breiten Publikum wurden zwei Skandale präsentiert, die allerdings schon zwei Jahre zurückliegen. SPIEGEL und ZDF berichteten von einem „Versuch Russlands, seinen Mann in den Bundestag“ zu bringen, am Vorabend der deutschen Parlamentswahlen im September 2017. Es ging um den enthüllten Schriftverkehr von Pjotr Premjak, Mitarbeiter eines Duma-Abgeordneten. Er schrieb angeblich eine Email an die Präsidialadministration Russlands mit einer Geheiminformation über Pläne zur russischen Einflussnahme in Deutschland. Was für ein Mitarbeiter Premjak war, wurde nicht berichtet.
Über eine Reaktion oder Handlungen von Seiten der Präsidialadministration ist nichts bekannt. Als Hauptheld der „Ermittlung“, für den in westlichen Zeitungen die Formulierung „ein unter absoluter Kontrolle stehender Abgeordneter“ zu finden ist, erwies sich der 26 Jahre alte ultrarechte AfD-Kandidat Markus Frohnmaier, Spitzname „Kampfzwerg“. Denkt in Deutschland wirklich jemand ernsthaft, dass über einen 26-jährigen „Kampfzwerg“ ein Bundestag mit 709 Parlamentariern, meistens durchaus seriöse Menschen, zu beeinflussen sei?
Die vermutete frühere Zugehörigkeit von Premjak zu Geheimdiensten ist kein Beweis für seine Verbindungen zu solchen Diensten heute, leider auch nicht für seine Kompetenz. Diese kleine primitive Initiative mit Plänen des russischen Staates zu verbinden, ist für diesen ziemlich beleidigend. Mehr noch, dieser Lügenskandal spricht für das Fehlen jeglicher realen Fakten einer „russischen Einmischung in die Wahlen“. Falls es solche gäbe, hätten Medien und Politik sie triumphierend auf den Tisch gelegt.
Dagegen ist die große Stille um die Tätigkeit Steve Bannons und seiner Gehilfen geradezu ohrenbetäubend. Interessiert die Technologie der psychologischen Manipulierung der Wähler in Europa wirklich nicht, die die Firma Cambridge Analytica in den USA mit so gewaltigem Erfolg zugunsten Trumps angewandt hat? Die hervorragende Recherche der Journalisten des britischen Channel 4 News vom März 2018 jedenfalls ist bisher weder von den Hauptmedien noch von den Parlamenten aufgegriffen worden. Offensichtlich möchte man Russland ohne Beweise der Einmischung bezichtigen, obwohl es eine Menge Beweise für die Einmischung US-amerikanischer ultrakonservativer Kreise gibt.
Ein „Skandal”, der Österreich eine Woche vor den Europawahlen erschütterte, stürzte den dortigen Vizekanzler, Chef der äußerst rechten Freiheitspartei, Heinz-Christian Strache, und seinen Partei-Vize Johannes Gudenus. Die betreffenden Ereignisse hatten 2017 stattgefunden und rankten sich um eine angebliche Nichte eines russischen Oligarchen. Allerdings wurde schnell klar, dass es sich weder um eine Nichte noch einen russischen Oligarchen handelte: Nach Angaben der österreichischen Kronen-Zeitung stellte eine dafür engagierte, russisch sprechende Studentin aus Bosnien die „Oligarchen-Nichte“ dar; sie bekam für den Tag immerhin 7000 Euro. Der mysteriöse Auftraggeber ist aber bis heute unbekannt. Echte Verbindungen zu Russland jedenfalls konnten weder Geheimdienste noch Medien, noch andere interessierte Kreise nachweisen.
Als Hintergrund einer „russischen Einmischung in die Wahlen“ wiederholen europäische Medien immer mal wieder die alten Nachrichten über einen Kredit der Ersten russisch-tschechischen Bank für den Front National wie auch über von der Partei Einiges Russland unterschriebene Memoranden über Zusammenarbeit mit der Lega Nord und der Freiheitlichen Partei Österreichs. Der Kredit datiert aus dem Jahre 2014, während die beiden Vereinbarungen 2016 unterschrieben wurden.
Warum bringt man keine frischeren Informationen?
Weil es sie eben nicht gibt.
Seit jener Zeit sind keine Fakten zur Finanzierung europäischer rechtsextremer Parteien seitens privater russischer Strukturen festzustellen, und die von Einiges Russland unterschriebenen Memoranden blieben leere Worte. Auch die im Juni erschienene Information über ein Treffen eines Vertreters der italienischen Lega mit zwei nicht konkret benannten Russen im Moskauer Hotel Metropol enthielt keinerlei Nachweise einer Finanzierung.
Versteht sich, dass diese zwei Skandale wie auch der allgemeine Hintergrund der Beschuldigungen herrschenden westlichen Kreisen im Vorwahlkampf von Nutzen waren, um die Mär von der „russischen Gefahr“ zu illustrieren und die Wähler zu mobilisieren. Jetzt aber, da die Wahlen vorüber sind, ist es Zeit, zu ernsthaftem Nachdenken und verantwortlicher Politik zurückzukehren.
Im Laufe der letzten Jahre haben russische Experten, darunter auch die Autorin, intern und öffentlich über den Schaden gesprochen, den Russland durch Beziehungen zu ultrarechten europäischen Kräften erleidet.
Äußerlich assoziieren solche Verbindungen Russland sofort mit Predigern der Ideologie des Hasses und Druckes, mit den Nachfolgern des europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts und den Ideologen des „neuen“ Faschismus des 21. Jahrhunderts wie auch der mit „alternativen Rechten“, dem Identitarismus, dem Nativismus, sogar dem „Archäofuturismus“. Solche Assoziierungen schädigen die Reputation Russlands wie auch die Glaubwürdigkeit jener Werte, die der offizielle russische Diskurs fördert. Daran sind eigentlich nur die Feinde unseres Staates interessiert: Wenn man Russland schon nicht isolieren kann, dann muss man es eben marginalisieren, es auf das Feld der Radikalen und Verstoßenen der westlichen Gesellschaften drängen.
In Russland ist jede Ideologie des nationalen oder religiösen Hasses ein Instrument, um das multinationale und multireligiöse Gewebe des russischen Volkes und Staates zu schädigen. Dieses Instrument nutzten das Dritte Reich wie auch die USA in den 1980er Jahren, was nicht zuletzt eine der wichtigsten Ursachen für die Zerstörung der Sowjetunion wurde. Die russische Gesetzgebung sieht die strafrechtliche Verantwortung solcher Sprüche vor, mit denen europäische Rechtsextreme leichthin jonglieren – in ihren Ländern können sie das ungestraft tun. In Russland verwundert uns zutiefst, dass die NPD legal existieren kann. Ähnliches wäre in Russland unvorstellbar. Im russischen Parlament gibt es keine Kräfte in der Art der AfD. Bei aller Odiosität ihres Vorsitzenden Wladimir Schirinowski und der Gemeinheit seiner Äußerungen in TV-Shows erlaubt sich selbst die LDPR nichts Vergleichbares im Parlament. Uns verwundert auch, wie in europäischen Staaten Parteien mit menschenfeindlichen Ideologien zehn, 15 oder gar 20 Prozent der Stimmen bekommen können.
Europäische Rechtsextreme stärken ihre Komplizen in Russland. Einzelne Gruppierungen mit monarcho-klerikalem, nationalistischem und faschistischem Gedankengut übernehmen im Streben nach Macht und Kapital gern europäische Ideologie und „Erfahrung“. Die Verbreitung nationalistischer und anderer rechtsextremer Ideen in Russland kommt den Feinden unseres Landes entgegen.
Was Europa selbst angeht – seine realistischen Kräfte – so sind die Kontakte der äußersten Rechten mit Russland ebenfalls nicht günstig. Teilweise auf Kosten Russlands haben sich Kräfte, die vor fünf Jahren noch marginal waren, im legitimen politischen Raum behauptet. Die äußersten Rechten bekommen Stimmen von Wählern, die normale Beziehungen mit Russland wollen. Nach Umfragen in Deutschland und Frankreich sind das immerhin 80 Prozent. Ein riesiger Teil der Wirtschaft möchte wegen der Verlängerung der Sanktionen nicht den russischen Markt und Profite verlieren, während die USA zur gleichen Zeit ungeachtet dieser Sanktionen ihren Handel mit Russland verstärken.
Auf lange Sicht, so zeigt es jedenfalls die Geschichte, kommt den herrschenden Kreisen Europas das Anbändeln mit dem Nationalismus teuer zu stehen. Die Überzeugung, dass „alles unter Kontrolle“ sei, erweist sich als illusorisch, die ersten, die unter dem Faschismus leiden, sind die Kräfte des Zentrums und der Linken.
Welche Richtung sollte man also nach den Wahlen einschlagen, wenn, wie zu hoffen ist, die antirussische Hysterie nachlässt? Für die verantwortungsbewussten Kräfte Europas erscheinen folgende Ansätze vernünftig und sinnvoll:
Erstens ist es an der Zeit, die Politik des Scherbengerichts gegenüber Russland zu beenden. Wenn es das Ziel war, „Putin für die Krim zu bestrafen“, so ist das nicht aufgegangen. Die Ratings der letzten Jahre verdeutlichen, dass die Russen sich bei Druck von außen mit der Macht solidarisieren, ungeachtet all ihrer Kritik an ihr. Das Rating Präsident Putins befand sich all diese Jahre auf einem Niveau, von dem europäische Politiker nur träumen können. Es sank nur im Ergebnis innerer Entscheidungen hinsichtlich der Rentenreform. Die Bevölkerung ist jedenfalls nicht bereit, auf die Rückkehr der Krim zu verzichten – eher trennt sich Kalifornien von den USA als die Krim von Russland. In fünf Jahren hat sich die Wirtschaft den Sanktionen angepasst, wurden andere Märkte gefunden, hat sich der ökonomische Inhalt der Sanktionen weitgehend erledigt. Die Sanktionen zwingen die russischen Beamten zu arbeiten und nicht auf den Westen zu hoffen, sie stimulieren die einheimische Produktion, die ohne sie nicht vorankam. Allerdings vergiftet allein der Fakt der Verlängerung der Sanktionen die Atmosphäre der Beziehungen.
Zweitens braucht Europa für eine verantwortungsvolle Politik mehr Souveränität. Es geht um die Priorität nationaler und gesamteuropäischer Interessen gegenüber transatlantischen. In Moskau schämte man sich jedenfalls für die europäischen Diplomaten, als diese die US-Idee eines Umsturzes in Venezuela unterstützten. Der Botschafter Deutschlands, Daniel Kriener, erwartete beflissen die Ankunft des selbsternannten Präsidenten Juan Guaidó auf dem Flughafen von Caracas, obwohl bald sogar Donald Trump verstand, dass der Staatsstreich nicht klappte, und die Pläne verschob. Europa muss sich nicht von den USA „abnabeln“ – die USA selbst stoßen in ihrer heutigen Form das zivilisierte Europa ab. Der Prozess der Stärkung der europäischen Souveränität macht sich bereits bemerkbar, man muss ihn jedoch beschleunigen – im Interesse Europas.
Drittens möchte Russland wie auch die überwiegende Mehrheit der Europäer eine erneuerte EU. Eine Systemreform – das ist die Frage „sein oder nicht sein“ für die Union. Wir wollen, dass sie effektiv ist, den Hoffnungen der Menschen und den Interessen der Demokratie entspricht, aber auch konstruktiv gegenüber Russland auftritt. Wie die Erklärungen von Präsident Macron und anderen europäischen Führern zeigen, gibt es Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen. Wichtig ist, dass die Länder Europas, vor allem Deutschland und Frankreich, sich nicht untereinander in taktische Streitigkeiten verwickeln. Dazu müssten sie sich auf strategisches Niveau erheben und verantwortliche Entscheidungen treffen, im Interesse ihrer Staaten und Völker wie auch Gesamteuropas, einschließlich Russlands.
Zu den Gegnern einer Erneuerung der Beziehungen zwischen Europa und Russland gehören überzeugte Atlantiker und Traditionalisten, aber auch jene, deren politisches und wirtschaftliches Kapital nur bei einer Betrachtung Russlands als Feind wachsen kann.
Russland ist zweifellos ein Teil Europas, verbreitete die europäische Kultur über den ganzen eurasischen Kontinent bis zu den Ufern des Stillen Ozeans.
Die Entwicklung des gesamten eurasischen Raums im Namen von Frieden und Prosperität erfordert die aktive Zusammenarbeit der vernünftigen Kräfte Europas und Russlands.

Aus dem Russischen von Hubert Thielicke.

Dr. Veronika Krascheninnikowa ist Politikwissenschaftlerin, Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation und des Obersten Rates der Partei Einiges Russland.