von Eckhard Mieder
Wenn ich morgens aufwache und nicht aufstehen möchte, das Grübeln ersetzt den Frühsport, die Zweifel über einen Sinn des Lebens (des eigenen und des menschlichen) drücken mich in das Kissen, dann erfreue ich mich an der freien Zeit, die ich habe und die mir noch bleibt. Wenn ich dann aufgestanden bin, muss ich mich zurechtfinden. In einer Welt, die sich in „atemberaubendem Tempo“ verändert. In einer Zeit, die „schnelllebig“ geworden ist. In einer Welt, die „sich beschleunigt“. Ich befinde mich, kaum dass meine Füße den lappländischen Flickenteppich neben dem Bett berühren, im „Wettlauf mit der Zeit“. Und kaum, dass ich Stulle, Apfel und Skyr gegessen habe, prasselt es auf mich ein: das Chaos dieser Welt und dieser Zeit, in der die „mediale Geschwindigkeit nicht mehr kompatibel ist mit der Trägheit moderner Gesellschaften“. Hä?
Habe ich nicht zwei Hände zum Greifen, zwei Beine zum Laufen, zwei Ohren zum Hören und zwei Augen zum Schauen? Liegt es nicht an mir, mich mithilfe der grauen Masse zwischen meinen Schläfen zurechtzufinden; dafür brauche ich weder ein digitales Navigiersystem, und auch irgendwelche Messgeräte nicht, die meine Schritte, meine Herzschläge, meinen Blutdruck und die Zahl der Wörter, die ich spreche, messen oder aufzeichnen. Kann man machen; macht doch.
Im Übrigen halte ich die Welt für so riesig-schön wie überschaubar-schlicht. Gehe ich nach links, gehe ich nach links. Gehe ich geradeaus, komme ich irgendwann ans Meer. Einem Moschusochsen weiche ich aus, wenn ich sehe, dass er mich sieht. Diese Schlichtheit der Betrachtung kommt vermutlich von meinen wochenlangen Wanderungen im Norden Europas. Oder von Island und Grönland, wo mich die Nachrichten aus der „beschleunigten Welt“ weder „in medialer Geschwindigkeit“ auf ihrem Kollisions-Geschwirbel mit der „Trägheit der modernen Gesellschaft“ erreichen, noch … noch vermisse ich irgendeinen Wettlauf. Den mit der Zeit schon gar nicht. (Es gab, erinnere ich mich dunkel, eine Sendereihe des DDR-Fernsehens, die den Titel „Wettlauf mit der Zeit“ trug. Eine irre Idee, fand ich. Wie konnte man darauf kommen, mit der Zeit olympisch umzugehen? Es konnte ein Bild gewesen sein; aber was aus solchen Bildern wird, hat die Zeit erwiesen. Und die Welt. Gut, das konnte niemand so genau voraussehen, auch diejenigen nicht, die sich in diesem Hürden-Lauf ganz vorn wähnten.)
Wer oder was ist es, der oder das mir einredet, ich müsse durch Welt und Zeit hetzen wie durch den schwedischen Wald der Elch, wenn er freigegeben ist zur Jagd? Bin ich recht eigentlich nur noch geduldet und ausgehalten als Rezipient, als Konsument, als Patient, als Instrument einer „beschleunigten Macht“, von der ich nicht wissen kann, ob sie sich als Regierung, als Ökonomie, als Medium verkleidet? Ist alles ein Karneval, drehen alle durch oder am Rad der Geschichte? Oder sind die nicht auch Getriebene, Gehetzte, Benutzte? Noch einmal: hä? Was für eine -ente soll ich sein? Und was für -enten sind die anderen?
Was mache ich heute? Lesen? Was schreiben? Ich könnte mich in ein Café setzen und den Leuten zuschauen. Mache ich ganz gern mal. Ich könnte mich für ein Philosophiestudium bewerben; ich las davon, dass ältere Herr- oder Frauschaften sich zwischen die jungen Leute im Hörsaal drängen und Antwort auf die Frage nach – da haben wir ihn wieder! – dem Sinn des Lebens suchen. Ich könnte in den Garten gehen, den ich sträflich vernachlässigt habe; und nur die Pflaumen und Äpfel ernte ich derzeit, so ein Garten muss ja auch einen Sinn haben. Im Wettlauf mit der Sommerzeit habe ich allerdings hoffnungslos verloren. Ich fühle mich noch im Sommer, doch da ist er schon an mir vorbei.
Ich könnte für das Klima streiken. Ich könnte mich um meine Enkelkinder kümmern und mich als großartiger Opa erweisen; diesbezüglich könnte ich mich beschleunigen, damit ich nicht in atemberaubender Langsamkeit ihr Wachsen und Werden verpasse. Dazu neige ich: zu dieser Entschleunigung, die Züge (Züge! Achtung! Eile! Tempo! Ziele!) einer leichten Asozialität hat. Eine gewisse Kontaktscheu, eine kleine Prise Autismus, kaum merklich für andere, weil ich meistens höflich bin. Und Höflichkeit, eine gewisse Dezenz, wird gern genommen. Befremdet auch, das muss ich hinnehmen. Ich muss ja auch die Welt und die Zeit hinnehmen.
Nun also nach dem Becher Frühstückstee eine Tasse Kaffee. Es braucht etwas zum endgültigen Wachwerden. Die kalte Dusche nach dem Aufstehen ist schon mal was. Heiß, kalt, im Wechsel. Oder ein Bad in einem norwegischen Bergsee, in einem lappländischen Fluss, aus dem Zelt heraus in die kalte Klarheit -, aber jetzt wird es zu romantisch und driftet in die Leibesertüchtigung ab. Apropos: Ich könnte auch zum Medizinischen Fitnesstraining gehen, auf dem Rudergerät sitzen und den Fisch-Imbiss auf der anderen Seite der Straße anschauen … Gibt es nicht bald wieder Skrei? Nein, dafür muss es Winter sein. Denk doch mal ein bisschen über die Zeit nach, du Freizeit-Philosoph!, die es braucht, einen prächtigen Kabeljau wachsen zu lassen, auf dieser Welt, als Kreatur …
Wo war ich gleich noch mal stehengeblieben?
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Entschleunigung, Sinn des Lebens