von Edgar Benkwitz
Der indische Premierminister Narendra Modi hat ein heißes Eisen angepackt. Mit radikalen Maßnahmen will er den Unruheherd Kaschmir beseitigen, der in der Vergangenheit die Entwicklung Indiens beeinträchtigt hat. Ob ihm das gelingt, ist ungewiss. Auf alle Fälle ist mit den bisherigen Zuständen Schluss, die getroffenen Maßnahmen schaffen in und um Kaschmir eine neue Lage, auf die sich die politischen Kräfte vor Ort, in ganz Indien sowie auch in der Region und darüber hinaus einstellen müssen.
Eine Änderung der Kaschmir-Politik wird seit langem in der indischen Öffentlichkeit erörtert. Zuletzt forderten es vehement die hindunationalistischen Kräfte in ihrem Programm für die Parlamentswahlen im Frühjahr diesen Jahres. Das Dekret des Staatspräsidenten vom 5. August, mit dem der Gültigkeitsbereich der indischen Verfassung in vollem Umfang auf den Bundesstaat Jammu und Kaschmir ausgedehnt wird, bedeutete die Annullierung des bisher gewährten Sonderstatus, der vor allem im Artikel 370 garantiert wurde. Das Parlament stimmte dem zu und beschloss darüber hinaus eine Reorganisation des Bundesstaates: er wird abgeschafft, stattdessen werden zwei Unionsterritorien gebildet – Jammu und Kaschmir sowie Ladakh, die direkt der Zentralregierung unterstellt sind.
Durch den ehemaligen Sonderstatus – der praktisch Autonomie bedeutete – wurden Jammu und Kaschmir seit 1950 Rechte und Privilegien gewährt, wie sie kein anderer Bundesstaat Indiens besitzt. So verfügte es über eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge und ein Staatsoberhaupt (wurde 1965 abgeschafft). Mit Ausnahme der Bereiche Verteidigung, Außenpolitik und Kommunikation konnte der Bundesstaat eigene Gesetze erlassen, die Gesetze aus Neu Delhi bedurften der Zustimmung des Staatenparlaments. Das galt auch für das sensible Gebiet Recht und Ordnung. Angehörige anderer Bundesstaaten durften in Kaschmir kein Land erwerben. Die Verfassung enthielt jedoch auch die entscheidende Feststellung, dass die Sonderrechte eine „vorübergehende Regelung“ seien, auf die der Präsident jederzeit Zugriff habe.
Der Autonomiestatus galt fast 70 Jahre. Jetzt werden die neuen Unionsterritorien Jammu und Kaschmir sowie Ladakh in ihren Rechten und Pflichten den anderen Unionsstaaten beziehungsweise -territorien gleichgestellt. Rückblickend muss jedoch festgestellt werden, dass die damaligen Entscheidungen zeitgerecht waren, denn sie trugen einer Reihe von Eigenständigkeiten in der sensiblen Bergregion im Nordosten Indiens Rechnung und entschärften die äußerst angespannte Lage. Die politischen Kräfte Kaschmirs wollten schon immer Distanz zum Mutterland Indien, sich aber zugleich vor dem Zugriff Pakistans schützen. So waren die gewährten Privilegien ein Entgegenkommen Neu Delhis, das mit der Hoffnung verbunden war, Kaschmir langfristig an Indien zu binden. Sie sollten auch – im Unterschied zu Pakistan – eine Demonstration für den in Indien verkündeten Säkularismus, für das tolerante Nebeneinander aller Religionen sein. Doch offensichtlich wurde die lokale Politik unterschätzt, ihre führenden Repräsentanten höhlten die gewährten Rechte für ihre Zwecke aus, missbrauchten sie. Eigenständigkeiten wurden vertieft, die Verfolgung und Vertreibung Andersdenkender toleriert. Vor allem Hindu-Gläubige waren betroffen; heute leben über 100.000 hinduistische Gläubige, die sogenannten Pandits, in Flüchtlingslagern außerhalb der Region. All das kam der pakistanischen Politik entgegen, die von jenseits der Grenze Separatismus und Terrorismus befeuerte.
Die Maßnahmen der Regierung Modi stießen in Indien auf große Zustimmung. Das verwundert nicht, denn im nationalistisch aufgeheizten Indien gilt Kaschmir mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung als Klotz am Bein. Dahin flossen seit Jahrzehnten bedeutende finanzielle Mittel, indische Streitkräfte mussten zunehmend eine starke militärische Präsenz zeigen, und Pakistan mischte sich immer offener in die inneren Angelegenheiten ein. Chaotische Zustände entstanden, Terror und Gegenterror herrschten, die Provinz war des Öfteren nicht regierbar. Ein normales Leben für den Bürger war so nicht mehr gewährleistet, Menschenrechte wurden von allen Seiten massiv verletzt. Der indischen Öffentlichkeit war klar, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte.
Die Reorganisation des Bundesstaates Jammu und Kaschmir hat unmittelbare Auswirkungen auf die Politik Pakistans. Mit dem Wegfall des Autonomiestatus und dem direkten Zugriff Neu Delhis auf die Region in praktisch allen Fragen werden die Möglichkeiten Pakistans, Einfluss auf den indischen Teil Kaschmirs zu nehmen, drastisch eingeschränkt. Das Ziel der pakistanischen Politik, Kaschmir letztendlich aus dem indischen Staatenverbund herauszubrechen, ist jetzt absolut unreal geworden. Das zeigt sich in der wütenden, jeglichen Realismus vermissenden Reaktion der pakistanischen Militärs und Politiker. In ersten Stellungnahmen wurden die Schritte Indiens als „einseitig und illegal“ bezeichnet. Es wurde vor Konsequenzen gewarnt, einschließlich kriegerischen Handlungen sowie terroristischen Aktionen. Die diplomatischen Beziehungen zu Indien wurden herabgestuft, der Botschafter des Landes verwiesen, die Handelsbeziehungen abgebrochen, der ohnehin spärliche Bus- und Eisenbahnverkehr eingestellt, sogar die beliebten Bollywood-Filme verboten. Der pakistanische Premierminister verstieg sich sogar zu der Beschwörung eines „drohenden Genozids in Kaschmir“; die indischen Maßnahmen seien von Hitlers Lebensraum- und Nazi-Ideologie inspiriert, so Imran Khan in seinen Tweeds.
Indien reagierte auf die pakistanischen Schritte und die aggressive Rhetorik gelassen. Es stellte klar, dass es sich bei den Maßnahmen um interne Angelegenheiten handelt. „Die Verfassung Indiens war und ist auch zukünftig immer eine souveräne Angelegenheit. Der Versuch, sich in deren Zuständigkeitsbereich einzumischen sowie die Beschwörung einer panikartigen Zukunft für die Region, wird niemals erfolgreich sein“, heißt es in einer Erklärung des Außenministeriums. Neu Delhi ist der Auffassung, dass sich Pakistan mit seinem Gebaren nur selbst schadet. „Die pakistanischen Politiker sollten ihrem Volk endlich die Wahrheit sagen: dass Indien dem von ihm kontrollierten Teil Kaschmirs genauso verpflichtet ist, wie Pakistan dem Teil, den es kontrolliert; leben und leben lassen ist weitaus besser, als unablässig Feindseligkeiten zu schüren“, heißt es in der Times of India vom 9. August.
Auch der von Pakistan gewünschte weltweite Aufschrei blieb aus. Die USA verkündeten, dass sie die Maßnahmen Indiens strikt als interne Angelegenheit betrachteten. Kein Wort mehr von der erst vor einigen Tagen großspurig verkündeten Vermittlerrolle Präsident Trumps. Interessant ist die Stellungnahme Chinas. Pakistans engster Verbündeter bezieht sich kaum auf dessen Interessen, im Mittelpunkt steht der Protest gegen die Schaffung des Unionsterritoriums Ladakh. China behauptet, dieses buddhistische Gebiet mit Leh als Hauptstadt wäre sein Territorium im westlichen Sektor. Indiens Schritte seien der Versuch, Chinas Souveränität zu unterminieren. Russland beschränkte sich auf die Feststellung, dass Indien gemäß seiner Verfassung gehandelt habe.
Tatsache ist, dass viele Staaten der Weltgemeinschaft, vor allem die südasiatischen Nachbarstaaten, aber auch die Großmächte, keine Verschärfung des Konfliktherdes Kaschmir sehen möchten. Sie sind die scharfmacherische und zuletzt auch zündelnde Rhetorik Pakistans leid und lassen das in ihren Stellungnahmen auch spüren.
Die Verantwortung für die zukünftige Entwicklung Kaschmirs liegt jetzt bei der Regierung Modi. Der Premierminister selbst hat eine Vision verkündet: frei von Terrorismus und Gewalt, keine Diskriminierung jedweder Art, Einbeziehung der Region in den Mainstream der nationalen Entwicklung – wirtschaftlich, sozialökonomisch und kulturell. Eine wahre Herkulesarbeit, die viele Jahre geduldiges Bemühen erfordern wird. Ob das konfliktlos gelingt, muss allerdings angesichts der leidvollen jüngsten Vergangenheit der Region sowie einer zunehmenden Hinduisierung der indischen Gesellschaft bezweifelt werden.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Kaschmir, Pakistan