22. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2019

Spatz und Engel

von Hermann-Peter Eberlein

Der Spatz von Paris Edith Piaf und die Lola aus dem Blauen Engel Marlene Dietrich: Die größte Chansonnière ihrer Epoche und der erste Hollywood-Star deutscher Herkunft hatten eine Geschichte miteinander, die 1947 in New York begann. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, einer Liebe sogar zwischen zwei Frauen, die unterschiedlicher kaum hätten sein können – hier die ältere, strukturierte, überlegene, aus gutem Hause stammende Deutsche, dort die kleine Pariserin französisch-italienisch-berberischer Abstammung, aufgewachsen in Belleville und in einem normannischen Bordell, süchtig nach Liebe, nach Morphium, nach Glauben, nach Leben. Es kann nicht gut gehen mit dieser Freundschaft: Marlene wird sich abwenden von Edith, als sie spürt, dass sie ihr nicht helfen, sie nicht retten kann, Edith wird ihr unflätige Vorwürfe an den Kopf werfen. Die Piaf wird mit 47 Jahren sterben, körperlich zerstört, die Dietrich wird fast doppelt so alt werden, 90, eine Ikone, die sich in ihr Pariser Appartement zurückgezogen hat und Kontakt zur Außenwelt nur mehr telefonisch hält.
„Spatz und Engel“ – das Theaterstück mit Musik von Daniel Große Boymann und Thomas Kahry nach einer Idee von David Winterberg erzählt Stationen dieser Freundschaft; Torsten Fischer hat es im Renaissance-Theater Berlin inszeniert. Es beginnt mit einem Auftritt Anfang der 1960er Jahre, als Marlene ihre Verbindung zur Piaf verleugnet; danach folgen, von der ersten Begegnung an, Szenen ihrer Beziehung bis zum Bruch und darüber hinaus. Am Schluss steht ein Dialog zwischen der mittlerweile seit 27 Jahren toten Piaf und der Dietrich, die sich in ihr Bett wie in einen Sarg verkrochen hat, um der Öffentlichkeit das Bild ihrer Schönheit und Jugend zu bewahren. Diese Szene bringt – weit über die Protagonisten hinausweisend – zwei Lebensformen auf den Punkt: sich an das Leben zu verschwenden und dabei dies selbst zu verlieren, oder am Leben zu bleiben um den Preis, zur Maske zu erstarren – erschütternd der Moment, wo die alte Dietrich die Perücke absetzt und aus ihrem Kleid steigt, wo aus der Diva die Greisin wird.
Es ist ein Vierpersonenstück: Ralph Morgenstern und Guntbert Warns, die die wechselnden Geliebten, Impressarios und Manager der Piaf und der Dietrich darstellen, meistern ihre Sprechrollen hervorragend. Einfach grandios sind Anika Mauer als Marlene Dietrich in ihrem überlegenen Gestus und ihrem souveränen Gesang (gnadenlos und ergreifend: Sag mir, wo die Blumen sind) und vor allem Vasiliki Roussi in der exzessiven Kraft ihrer Darstellung von Liebe und Verzweiflung, mit ihrem abwechselnd verführerischen oder stieren Blick und mit einer Stimme, die an vielen Stellen an die der Piaf heranreicht. Bei ihr liegen naturgemäß die musikalischen Höhepunkte des Stücks: La vie en rose, Padam, Mon Dieu, Bravo pour le clown, die Hymne à l’amour, Mylord und natürlich Non, je ne regrette rien. In diesem Chanson kulminiert die Dramatik des Stücks; schade, dass sich Roussi – vielleicht gerade deshalb – an dieser einen Stelle zu einer etwas zu manierierten Vortragsweise hinreißen lässt, während sie bei den übrigen Stücken die Wucht des Originals erreicht. Harry Ermer und Eugen Schwabauer als Begleiter an Flügel und Akkordeon stützen, aber lassen die Sängerinnen sich voll entfalten.
Ein ungemein beeindruckendes Stück hat das Renaissance-Theater da auf die Bühne gebracht. Premiere am 3. Juni, weitere Aufführungen folgen vom 18. bis zum 21. und am 25., 26., 29. und 30. Juni sowie im Juli und September.