von Edgar Benkwitz
Am 27. März vormittags lief in den indischen Medien eine Eilmeldung, wonach Premierminister Modi sich 11 Uhr 45 mit einer Rede an die Nation wenden werde. Sofort kamen Gerüchte und Spekulationen auf, denn ein solches Ereignis ist auch in der indischen Politik rar. Man erwartete Bedeutendes, denn viele vor dem Land stehende Probleme verdienen eine gezielte Beachtung von höchster Autorität. Beispielsweise das Kaschmir-Problem oder die Lage der Millionen Unterpriveligierten. Auch eine groß angelegte Initiative für einen dauerhaften Frieden mit Pakistan würde Indien gut zu Gesicht stehen.
Doch Indien befindet sich in der Endphase eines erbittert geführten Wahlkampfes. Nach sieben Etappen Wahlmarathon schließen am 19.Mai die letzten Wahlbüros. So ist es nicht verwunderlich, dass Premier Narendra Modi die Gelegenheit nutzte, um eine Nachricht zu verkünden, die an den Nationalstolz der Massen gerichtet war und seiner Partei im Endspurt des Wahlkampfes zusätzlich Punkte bringen sollte. Er ließ die Nation wissen, dass Indien an diesem Morgen mit einer Rakete erfolgreich einen eigenen Satelliten in der Erdumlaufbahn zerstört habe. „Indien steht nun als stolze Weltraummacht da“, hörten die erstaunten Inder. Und Modi fügte hinzu, dass Indien das vierte Land in der Welt sei, das diese Technologie beherrsche. „Wir können uns nicht nur am Boden, im Wasser und in der Luft, sondern auch im Weltraum verteidigen“, hieß es aus dem Munde des Regierungschefs. Und er steigerte sich noch, indem er den Test „Mission Shakti“ nannte und ihn damit bedeutungsmäßig mit der „Operation Shakti“ gleichsetzte – das war der Code für die umstrittene indische nukleare Testserie von 1998, die das Land zur Atommacht erhob.
Noch am gleichen Tag setzte eine rege Kommentierung des Geschehens ein. Zunächst warfen kritische Stimmen dem Premierminister vor, eine wissenschaftlich-technische Leistung aus dem militärischen Bereich im Wahlkampf zu Gunsten seiner Partei vermarktet zu haben. Auch die indische Wahlkommission, die mit Argusaugen auf eine Einhaltung der Wahlregeln wacht, war sich unschlüssig, wie sie auf die offensichtliche Vermengung von Regierungspolitik und Wahlgeschehen reagieren sollte.
Von größerer Bedeutung sind jedoch grundlegende Betrachtungen. Die Economic Times vom 27. März weist darauf hin, dass Indien mit dem Test einen Kurswechsel seiner Politik vollzogen habe, denn noch vor einigen Jahren trat es vehement gegen eine Militarisierung des Weltraums ein. Dieser Wechsel sei aber dem gewachsenen Sicherheitsbedürfnis geschuldet, das vor allem durch Chinas Antisatelliten-Raketentest von 2007 entstanden sei, heißt es weiter. Tilak Devasher, Mitglied des nationalen Beratergremiums für Sicherheitsfragen betonte, dass Indien durch den Test eindeutig sein strategisches Gewicht erhöht habe. Unmissverständlich forderte er dann, Indien zukünftig als Großmacht zu behandeln. „In jeder zukünftigen Weltraumarchitektur kann Indien nicht ignoriert werden. Als die internationale Nukleararchitektur durch den Kernwaffensperrvertrag geschaffen wurde, fand Indien keine Berücksichtigung, da es noch keine Nuklearwaffen getestet hatte. Der Antisatelliten-Test wird sicherstellen, dass Indien in allen künftigen Weltraumabkommen einer der Hauptakteure sein wird“, schreibt er in der Times of India. Einige Autoren weisen auf den Widerspruch zwischen wissenschaftlich-technischer Leistung im All und den alltäglichen Sicherheitsproblemen hin. „Obwohl Indien jetzt dem Star War-Club beigetreten ist, sind die Streitkräfte mit uralten Geräten ausgestattet“, heißt es etwa bei Ashutosh Garg unter Hinweis auf die vor wenigen Wochen stattgefundenen Scharmützel über Kaschmir, in deren Verlauf moderne pakistanische F-16 Flugzeuge eine MIG-21 der indischen Luftwaffe abgeschossen hatten.
Bemerkenswert an den meisten dieser Feststellungen ist, dass ausgerechnet ein rein militärisches, destruktives Ereignis zum Anlass genommen wird, um Indiens Ansprüche auf den Weltraum anzumelden.
Dabei braucht sich Indien als junge Raumfahrtnation nicht zu verstecken. Es ist beeindruckend, was besonders im letzten Jahrzehnt erreicht wurde. Bereits 2008 landete eine Sonde auf dem Mond, und seit 2015 arbeitet in 650 Kilometer Höhe ein anderthalb Tonnen schweres Weltraumlaboratorium. Auch vom Mars, der seit drei Jahren von einem Satelliten umkreist wird, werden Daten übermittelt. Erdsatelliten werden laufend im Kosmos platziert, seit Jahren bietet sich Indien auf diesem Gebiet als preiswerter Dienstleister für ausländische – darunter deutsche – Unternehmen an. Rein indischen Zwecken dienen 49 Satelliten, unter anderem ist ein eigenes GPS-System im Aufbau. Einen „Weltrekord“ gab es 2017, als mit einer Rakete 104 Satelliten ausgesetzt wurden. Nach mehrmaliger Verschiebung soll nun im Mai ein Roboterfahrzeug auf dem Mond landen, an einer bemannten Weltraummission mit drei „Indonauten“ wird gearbeitet. Sie soll 2022, zum 75. Jahrestag des unabhängigen Indien, realisiert werden. Diese Leistungen werden von der Fachwelt anerkannt und geschätzt, sie gingen bemerkenswerterweise ohne das jetzt erlebte politische Getöse über die Bühne.
Eine Frage wird ebenfalls durch die Presse gestellt: Wen hat Indien eigentlich aus dem Weltall zu befürchten? Der „Erzfeind“ Pakistan könne es kaum sein, denn der besitze nur sechs Satelliten, die zudem durch fremde Trägerraketen transportiert wurden, meint Manoj Joshi in der Times of India. Und mit China sollte sich Indien eher nicht vergleichen, dort sei in der Vergangenheit eine Technologie entwickelt worden, die – so rechnet es die Presse ihrer Regierung vor – über alle möglichen Systeme verfügt und nur mit der der USA verglichen werden könne.
Auch international brachten der Test und dessen politische Vermarktung wenig Erfreuliches ein. Pakistan und China, denen sich Russland anschloss, warnten vor einer Militarisierung des Weltraums. Und der Direktor der US-Weltraumbehörde NASA nannte das Ereignis eine „schlimme,schlimme Sache“, denn die 400 Trümmerstücke des zerstörten Satelliten könnten die Internationale Raumfahrtstation ISS gefährden. „Diese Aktivitäten sind nicht kompatibel mit der Zukunft der menschlichen Raumfahrt“, meinte NASA-Chef Bridenstine. Er fügte hinzu, dass bisher 60 Bruchstücke, die größer als 10 Zentimeter sind, beobachtet würden. Die ISS befindet sich in etwa 400 Kilometer Höhe, die Bruchstücke des zerstörten Satelliten, der eine dreiviertel Tonne wog, etwa in 300 Kilometer Höhe. Indien hatte angegeben, dass diese keine Gefahr darstellten und bald im erdnahen Raum verglühen werden. Es warf den USA, Russland und China vor, doppelzüngig zu agieren, denn durch ihre ähnlichen Tests würden sich noch heute Tausende von Schrottstücken im Weltraum befinden.
Die Welt wird sich wohl darauf einstellen müssen, dass Indiens nationalistisches Denken und Handeln sowie sein Streben nach einer anerkannten Großmacht auch in Zukunft seine Politik bestimmen wird. Geballten Ausdruck fand es im Wahlmanifest der stärksten politischen Kraft des Landes, der Indischen Volkspartei (BJP), das am 9.April veröffentlicht wurde. Neben vielen Vorhaben und Versprechungen enthält es auch eine Vision für das nächste Jahrzehnt. Es heißt hier: „Wir streben danach, bis 2030 Indien zur drittgrößten Wirtschaft der Welt zu machen […] wir verpflichten uns, Indien bis 2025 zu einer 5 Billionen, und bis 2032 zu einer 10 Billionen US-Dollar-Wirtschaft zu machen […] Wir glauben, dass Indiens Zeit gekommen ist. Wir entwickeln uns zu einem Kraftzentrum in einer multipolaren Welt. Das Aufstreben eines Neuen Indien ist die neue Realität, und wir werden eine Hauptrolle bei der Formung der globalen Tagesordnung im 21.Jahrhundert spielen.“
Nun, auch in Indien werden Wahlmanifeste gewöhnlich als leichtgewichtige politische Dokumente angesehen. Noch weiß man auch nicht genau, ob Narendra Modi mit seiner Partei eine zweite Amtszeit erhält. Nichtsdestotrotz sollte die Ansage nicht leichtfertig abgetan werden.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Indonauten, Militarisierung des Weltraums, Narendra Modi, Weltraummission