22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Von Lämmern und Tuis

von Bernhard Romeike

„Das Schweigen der Lämmer“ ist der Titel eines berühmten Hollywood-Thrillers mit Jodie Foster und Anthony Hopkins aus dem Jahre 1991. Dort geht es um die Jagd einer jungen FBI-Agentenanwärterin nach einem Serienmörder, die nur mit Hilfe eines anderen, im Gefängnis einsitzenden Serienmörders gelingt. Im Hintergrund spielt ein Kindheitstrauma der jungen Polizistin eine Rolle. Sie musste nach dem Tod ihres Vaters auf dem Hof eines Onkels leben, zu dem ein Schlachthof gehörte, in dem Schafe geschlachtet wurden. Das Schreien der Lämmer, wenn sie zur Schlachtbank geführt wurden, hörte sie noch als Erwachsene im Schlaf. Unterbewusst hoffte sie, mit der Verhaftung des Serienmörders das Trauma zu überwinden, dass dann die Lämmer schweigen.
Dieses Bild hat der Psychologie-Professor Rainer Mausfeld für den Titel seines jüngst erschienenen Buches gedreht: „Warum schweigen die Lämmer?“ Das meint die Situation, da die Bevölkerungsmehrheit in den heutigen, real existierenden kapitalistischen Staaten des Westens von den herrschenden Eliten hinters Licht geführt wird, wir offiziell in einer Demokratie leben, tatsächlich in einer „Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten“, in der zentrale Bereiche der Gesellschaft grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind. Die Metapher meint: Die „Lämmer“ in Gestalt der heutigen Bevölkerungsmehrheiten schreien nicht einmal, sondern lassen sich schweigend auch auf den Weg zum Schlächter bringen.
Das Bild des Lammes gibt es traditionell auch in einem anderen Kontext. Bereits die alten Griechen verglichen das Volk mit einer Herde, die zu irrationalen Affekten neige und daher der Leitung durch den Hirten, die aufgeklärte Elite bedürfe. In dem Maße, wie sich seit dem 19. Jahrhundert der Gedanke durchsetzte, „dass Demokratie die einzig legitimierte Herrschaftsform sei, wurde es nötig, Demokratieformen zu entwickeln, die für die besitzende Klasse risikofrei sind“. Dazu wurden die Organisationsformen der Macht immer abstrakter gestaltet, so dass Unbehagen, Empörung oder Wut der Machtunterworfenen keine politischen Ziele und keinen Adressaten mehr finden. Zugleich sollte deren Bewusstsein so manipuliert werden, dass sie nicht einmal wissen, dass es hinter der scheinbar demokratisch kontrollierten politischen Oberfläche „überhaupt Zentren der Macht gibt“.
Dabei sind die Medien nicht mehr die „Wachhunde des öffentlichen Interesses gegenüber den Zentren der Macht, sondern vielmehr ihre Schutzhunde“. Der Neoliberalismus ist nicht mehr als Ideologie erkennbar, sondern Armut und Prekarität auch in westlichen Gesellschaften erscheinen als bedauernswerte, doch unvermeidliche Nebenwirkung des Wirkens der „Marktkräfte“. Und die kann man nicht abwählen.
Mit der so vollzogenen „neoliberalen Entpolitisierung der Gesellschaft verschwand weitgehend die Figur des politisch aktiven öffentlichen Intellektuellen“. Intellektuelle und Journalisten treten nun als „Bannwarte der Macht“ in Erscheinung. Sind das, was Bertolt Brecht die „Tuis“ nannte, die intellektuelle Leistung vermieten, Vermarkter der Freiheitsillusion, „Weißwäscher, Ausredner und Kopflanger“ der Mächtigen. In Tui-Schulen werden Tuis gezüchtet, deren Funktion es ist, „die Wahrnehmung der Realität interessengeleitet [so] zu verformen und das öffentliche Bewusstsein so umzuformen, dass es die Kraftfelder der Macht nicht stört“. Und je offenkundiger auch der Bevölkerung die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität wird, desto größerer „Scharen bereitwilliger Intellektueller und Journalisten“ bedarf es.
Dabei wetteifern die Tuis um die wohlwollende Aufmerksamkeit der Mächtigen. Darunter „durch großzügige Verwendung staatlich anerkannter Diffamierungsvokabulars“, besonders beliebt „Verschwörungstheoretiker“, „Querfront“ und „als sozusagen nukleare Option, die Verwendung des Ausdrucks ‚Antisemit‘ als Diffamierungsattribut“. Systemkritik wird so lange „Differenzierungen“ unterzogen, bis sie sich im akademischen Nebel verflüchtigt hat. So finden sich auch „auf Seiten der systemkompatiblen Linken […] zahlreiche Tuis, die jede auf die Wurzeln gegenwärtiger Macht- und Gewaltverhältnisse zielende Systemkritik zu delegitimieren und zu diskreditieren suchen und auf diese Weise ihren Beitrag zu einer Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse leisten“.
Die Tuis haben das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch von Mausfeld folgerichtig rasch verschrien. Tanjev Schultz, ehemaliger Redakteur der Süddeutschen Zeitung und nun Journalistik-Professor, meinte, das Buch sei „nicht besonders originell. Es baut auf einer radikalen Demokratietheorie auf, mischt sie mit den Denkfiguren des alten Adorno und des im Laufe der Jahre immer zorniger und paranoider werdenden Noam Chomsky – und fertig ist ein Buch für den linken Wutbürger“ (Süddeutsche Zeitung, 13.11.2018). Der Tübinger Amerikanistik-Professor und selbsternannte Verschwörungstheoretiker-Entlarver Michael Butter zählt in seiner zu diesem Themenkreis 2018 erschienenen Publikation fünf besonders böse „Verschwörungstheoretiker“ auf, die aus dem „öffentlichen Debattenraum“ in Deutschland ausgeschlossen gehören. Mausfeld ist ihm einer davon.
Butters Verdikt wurde denn auch beflissen in den Wikipedia-Eintrag zu Mausfeld eingefügt: Seine medien- und kapitalismuskritischen Arbeiten trügen „stark populistische und mitunter auch verschwörungstheoretische Züge“. Zudem fehle ihm „von seinem Fachgebiet her […] die Kompetenz, sich über politische Themen zu äußern“; „wegen seines Professorentitels“ werde er jedoch „als Autorität dazu wahrgenommen“. Das schreibt ein gelernter Gymnasiallehrer, der sich mit US-amerikanischer Literatur- und Kulturgeschichte sowie Narratologie befasst hat und daraus seine Kompetenz als Exorzist von Verschwörungstheorie-Dämonen ableitet. Welcher Professorentitel gibt ihm die Autorität, ein solches Urteil zu fällen?

Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2018, 304 Seiten, 24,00 Euro.