22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Mehr Hamlet geht nicht

von Manfred Orlick

Wie kaum ein anderer Dichter hat William Shakespeare die deutsche Literatur entscheidend beeinflusst. Vor rund 250 Jahren haben die Deutschen den großen englischen Dramatiker entdeckt und schufen seitdem ihr eigenes Shakespeare-Bild. In den urwüchsigen Stücken des Engländers sah man einen Gegenpol zu den klassizistischen Dramen nach französischem Vorbild. Es entbrannte ein regelrechter Wettlauf um eine deutsche Übersetzung: Wieland, Eschenburg, Lenz und Bürger. Mit einer gewaltigen Anstrengung übersetzte schließlich August Wilhelm Schlegel in den Jahren von 1797 bis 1801 sechzehn Shakespeare-Dramen, die in acht Bänden in der Berliner Verlagsbuchhandlung von Johann Friedrich Unger erschienen. Damit wurde Shakespeare gewissermaßen zum Gemeingut der deutschen Literatur, zum „Kidnapping des englischen Dichters“ (Frank Günther). Schlegel bemühte sich, wie er sich selbst einmal äußerte, um die innere und äußere Treue dem Original gegenüber, aber auch um eine leichte und gefällige Sprache. Seine Übersetzungsprinzipien hat er in verschiedenen Aufsätzen dargelegt, mit denen er zum „Begründer der romantischen Schule“ und zum wissenschaftlichen Shakespeare-Philologen in Deutschland wurde. Ihm und Ludwig Tieck, dessen Tochter Dorothea und Graf Baudissin die Übersetzungen fortsetzten, wurde später allerdings vorgeworfen, sie hätten den vitalen Shakespeare für das deutsche Bildungsbürgertum romantisiert. Trotz dieser Kritik wurde jedoch jede nachfolgende Übersetzung an Schlegel gemessen.
Schlegel hatte bereits 1793 erste Übersetzungsversuche am „Hamlet“ unternommen und sich dabei intensiv mit seinem jüngeren Bruder Friedrich ausgetauscht. Die endgültige Übersetzung erschien aber erst im Jahre 1798. Nun liegt im Georg Olms Verlag mit dem „Hamlet-Manuskript“ das Arbeitsmanuskript Schlegels vor. Die sogenannte „Dresdner Handschrift“ stellt dabei eine charakteristische Mittelstellung zwischen Schlegels ersten Entwürfen und der endgültigen Druckfassung dar. Es ist gewissermaßen die eigentliche „sprachschöpferische Transformation“.
Die vorliegende Edition gibt auf der einen Seite das Manuskript (in Kurrentschrift) in Originalgröße wieder, während auf der gegenüberliegenden Seite eine zeichengetreue Transkription die Lesbarkeit wesentlich erleichtert. So sind alle Änderungen gut nachvollziehbar (aufschlussreich zum Beispiel am berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein“, der in der ersten Fassung ganz anders begann). Mit diesen Verbesserungen wollte Schlegel vor allem den dichterischen Ausdruck steigern. Sie zeigen, mit welcher Sorgfalt er sich der Sprache Shakespeares zuwandte.
In den Schwarz-Weiß-Abbildungen sind verschiedene Tintenfarben sowie Tintenstärken erkennbar, was auf eine mehrfache Beschäftigung mit den entsprechenden Textstellen schließen lässt. An manchen Stellen ist auch die Handschrift von Caroline Schelling auszumachen, die bei der Herausgabe der Shakespeare-Übersetzungen behilflich war. Außerdem gibt es einige Scans von „Hamlet“-Zetteln (Auslassungen für die Bühnenfassung) und einem Druckfehlerverzeichnis. Im Anhang werden noch einige Dokumente zur Entstehungsgeschichte der „Hamlet“-Übersetzung angeführt.
Unter den Dramen und Komödien von William Shakespeare nimmt die Tragödie „Hamlet – Prinz von Dänemark“ eine Sonderstellung ein. Hamlet, der Zauderer, der Versager, der Aussteiger, der Intellektuelle, der im deutschen Wittenberg vor lauter Denken das Handeln verlernt hat und der in großen Monologen über das Leben und die Unbilden seiner Zeit philosophiert. Keine andere Theaterfigur hat mit ihrer Gedankenverlorenheit und Grübelei das deutsche Gemüt so bewegt. Das macht auch dieses „Hamlet-Manuskript“, mit dem man Schlegel gewissermaßen bei der Arbeit über die Schulter blicken kann, so interessant und wertvoll. Mehr „Hamlet“ geht nicht.

August Wilhelm Schlegel: Hamlet-Manuskript, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2018, 428 Seiten, 88,00 Euro.