von Manfred Orlick
Vor 200 Jahren schrieb Wilhelm Waiblinger aus Rom: „Was für ein Unterschied zwischen Römer und Deutschen? Jener schafft nicht und lebt, dieser [… ] lebt nicht und schafft.“ Und das meinte der junge schwäbische Dichter und Theologe aus tiefster Überzeugung. Spätestens seit Goethes Italienreise 1786/87 wurde Italien zwar zum Sehnsuchtsland der Deutschen – besonders für Dichter, vom Weimarer Geheimrat über Keller, Rilke, Nietzsche bis zu Bachmann, Brinkmann oder Gernhardt – doch neben der schwärmerischen Bewunderung war Italien auch immer Objekt deutscher Vorurteile.
Der Arzt und Kunsthistoriker Klaus Bergdolt geht in seinem neuen Buch der Frage nach, ob es sich dabei nur um hohle, aufgebauschte Rhetorik handelt – um Aufmerksamkeit zu erregen? Doch die Fakten sprechen leider dagegen. In knapp 20 thematischen Kapiteln beleuchtet der Autor das irritierende Phänomen von deutscher Arroganz und Verachtung, wobei das 18. und 19. Jahrhundert im Mittelpunkt stehen. Schon hier blickten viele deutsche Intellektuelle mit einem Gefühl der moralischen und kulturellen Überlegenheit auf die Italiener herab. Selbst Goethe spottete über die Verschmutzung des Markusplatzes oder geißelte die Oberflächlichkeit der Südländer. So resultierte aus seinen Besuchen in Venedig, Rom oder Neapel keine andauernde Freundschaft mit einem Einheimischen.
Bereits in der Renaissance warnten Pilgerführer vor den Risiken einer Romreise: Die Italiener hätten es primär nur auf Geld und Vermögen der Reisenden abgesehen. Italien galt als unsicheres, politisch unzuverlässiges Terrain. Nicht wenige Deutsche hielten die Italiener, speziell die Römer, für unzuverlässig und undankbar. Bergdolt weist nach, dass die herablassende Sicht im Wesen des Humanismus lag, denn in Frankreich und Italien zeigten sich ebenfalls intellektueller Hochmut und vergleichbare nationalistische Anwandlungen. Später waren es vor allem protestantische Gelehrte, die mit ihrer Selbstgefälligkeit an den Italienern kein gutes Haar ließen – vor allem der Kirchenstaat schnitt am verheerendsten ab. So war das Jahrhundert der Aufklärung eine Epoche, in der die Deutschen die Italiener skeptischer denn je betrachteten. Es kam sogar zu hasserfüllten Ausfällen, die in der „Kunstschwärmerei“ eine „krankhafte Sehnsucht nach dem Süden“ sahen. Die deutsche Italienformel lautete damals: „Strahlende Vergangenheit, schändliche Gegenwart“. Trotzdem blieb die „Grand Tour“ für die Mehrheit deutscher Kavaliere, Akademiker und Künstler eine attraktive Option.
Im 19. Jahrhundert gab es erste Italien-Reiseberichte, die auf Moralismus und Arroganz verzichteten – Schinkel, Platen, Seume, Müller oder Vischer. Sie blieben zunächst selten, später mischten sich auch selbstkritische Töne in die „welsche Arglist“. So wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das berüchtigt-negative Bild der Italiener weitgehend aufgegeben; aber wie kritische Blicke in die Gegenwart verraten, ist es bis heute nicht überwunden. Noch immer wird die kulturelle Bedeutung Italiens zwar anerkannt, sie wird aber nicht mit ihren aktuellen Bewohnern in Verbindung gebracht. Ja, sie werden verachtet oder gar als kriminell und korrupt verteufelt. Die Geschichte entlarvt jedoch diese unsägliche deutsche Tradition als ein fragwürdiges Relikt eines längst antiquierten Zeitgeistes. In dem Kapitel „Respekt und Skepsis“ widmet sich Bergdolt auch der Sicht der Italiener auf Deutschland, die sowohl von Ablehnung deutscher Bevormundung beziehungsweise Herrschaftsansprüchen als auch von einer gewissen Bewunderung geprägt war. Und so sind Italiener und Deutsche bis heute „fremde Freunde“ geblieben.
Klaus Bergdolt: „Kriminell, korrupt, katholisch? – Italiener im deutschen Vorurteil“, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018, 243 Seiten, 32,00 Euro.
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