von Wolfgang Brauer
Bevor ab 1975 die „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ anfingen, die weihnachtlichen Fernsehprogramme zu dominieren, fiel die Aufgabe der „Schneekönigin“ zu. Inzwischen gibt es von diesem zauberhaften Kunstmärchen Hans Christian Andersens mindestens 14 Verfilmungen. Meinen Lieblingsfilm verantwortete Gennadi Kasanski 1967 für Lenfilm. Kein Geringerer als der Dramatiker Jewgeni Schwarz („Der Drache“) fertigte das Drehbuch – und Schwarz verstand es meisterhaft, eine kindgerechte Handlung mit unübersehbaren Hinweisen auf die enorme Vielschichtigkeit dieses Märchens zu verbinden. Ich gestehe es gerne: Die Begegnung mit den Festungswällen Tallins, auf denen der Junge Kai seinen Rodel an den Prachtschlitten der Schneekönigin anband, jagte mir selbst an einem heißen Sommertag einen eisigen Schauder über das Herz. Am Fuße dieser Märchenwälle befindet sich das Mahnmal für die Toten der „Estonia“. Ein wahrhaft gruseliger Zusammenhang, den auch Andersen hätte erfinden können.
Hans Christian Andersen wird von vielen vollkommen zu Unrecht in die angestaubte Kiste biedermeierlichen Erzählens abgelegt.
Andersen erfand auch die Figur des Ole Luköie, den dänischen Sandmann. Ole Luköie spannt einen Schirm mit bunten Bildern über die schlafenden guten Kinder. Die bekommen daraufhin schöne Träume. Über die Bösen spannt er einen Schirm ohne Bilder, die träumen gar nichts. Ganz bestimmt dreht Luköie seinen Schirm über den Köpfen der Schlafenden. Der Schirm erinnert mich ein wenig an das Wunderrad des belgischen Physikers Joseph Plateau aus dem Jahre 1833. Ich bin mir sicher, Andersen kannte diese geniale Vorform des Films. Er verfolgte aufmerksam die Erfindungen seiner Zeit, den „Ole Luköie“ schrieb er 1840.
Und ganz sicher bin ich mir, dass die Bilder auf dem Schirm Ole Luköies aus glänzendem Buntpapier herausgeschnitten wurden – vermutlich von Andersen selbst erdacht, dem Luköie sie im Schlafe aus dem Gedächtnis stibitzt hatte, bevor der große Märchenerfinder und Freund aller Kinder sie mit seiner Zauberschere selbst schneiden konnte. Die Schere kann man im Andersen-Museum von Odense in Dänemark besichtigen. Hans Christian Andersen war nämlich auch ein großer Meister des Scherenschnittes. Er soll – wie Ejna Stig Askagård und Klaus Müller-Wille berechneten – rund 400 davon angefertigt haben. In den öffentlichen dänischen Sammlungen sind aber nur 174 vorhanden. Andersen hat die kleinen Wunder aus Papier nicht behalten, sondern sie oft sofort nach dem Entstehen verschenkt.
„Seht, nun fangen wir an! Und wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als wir jetzt wissen“, beginnt das Märchen von der Schneekönigin. „Nun fangen wir an!“ – und er ließ mit dem Beginn des Erzählens – er war ein begnadeter Erzähler – zugleich die Spitzen der Schere tanzen. Viele, die als Kinder mit am Tische saßen, wenn er seine Geschichten erzählte, berichteten davon. Noch die Altgewordenen berichten in ihren Memoiren fasziniert, wie mit dem Ende der Geschichte auch der Scherenschnitt fertig war. Hat Andersen nun die Länge der erzählten Geschichte dem beabsichtigten Motiv angepasst, oder beendete er einfach schnipp-schnapp den Lauf der Schere, wenn die Geschichte zu Ende war? Wir werden es wohl nie genau erfahren. Aber „Scherenschnitte sind der Auftakt zum Schreiben“, verrät er der befreundeten Dorothea Melchior in einem Brief vom 21. Juli 1867.
Hans Christian Andersens Scherenschnitte – samt etlichen seiner Zeichnungen und Collagen – kann man derzeit in der Kunsthalle Bremen besichtigen. Schon im ersten Saal begegnet man dem Mysterium Andersenschen Erzählens. Dort hängt Elisabeth Jerichau-Baumanns Gemälde „Hans Christian Andersen liest Kindern vor“ (1862) aus dem Odenseer Museum. Beim ersten Hinsehen wirkt das Bild zutiefst kitschig, dem süßlichen Salon-Stil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Aber gehen Sie ruhig näher ran, schauen Sie in die Augen der Kinder … Sie werden das Rätsel des wirklichen Erzählens erleben. Da sind nur die Kinder und der Erzähler, beide Parteien in stiller Übereinkunft, und zwischen ihnen schwebt unsichtbar das Märchen. Der Rest der Welt, der bedrohlichen Welt, bleibt ausgesperrt. Kerzengerade und regungslos sitzt das kleine Lockenköpfchen im Mittelgrund des Bildes auf seinem Hocker. Die Wangen des kranken Mädchens im Bett – ist es nun das Fieber, was sie so glühend macht oder doch gar das Märchen?
Andersens Märchen sind fast immer etwas gruslig und selten lustig. Sie reflektieren auf mehrfach gebrochene und sehr eigenwillige Weise die sozialen Realitäten seiner Zeit und die eigene schlimme Kindheit. In ihnen wimmelt es von angstmachenden Figuren.
Aber ungleich stärker tauchen die in seinen Scherenschnitten auf. Da gibt es die „Figur mit drei Köpfen“ – aber auf ihren Beinen posieren zwei zierliche Ballerinen auf Spitze. 1859 – einer der wenigen Scherenschnitte, der sich datieren lässt – erschreckt eine „Frau mit vier Brüsten“ die Betrachter. Im selben Jahr schnippelt er eine „Phantasie mit großem Kopf“. Fans der Roswell-Verschwörung werden sofort aufschreien: „Wir wussten es, die Aliens landeten schon vor einhundert Jahren auf der Insel Fünen!“ Und am 18. August 1850 hatte der Künstler eine „Teufelin, kleine Kinder fressend“ geschnitten.
Diese Arbeiten sind rätselhaft, es sind mitnichten Illustrationen der schriftstellerischen Werke. Andersen hat sie selbst nie interpretiert. Warum, zum Teufel, sperrte er zwei Ballerinen in eine verkorkte Flasche? Sicher kannte er Friedrich de la Motte Fouqués Geschichte vom Galgenmännlein. Vielleicht kannte er auch die Sage vom „Spiritus familiaris“ der Brüder Grimm. Und natürlich Aladins Wunderlampe. Aber Ballerinen, diese zauberhaften Wesen, die er so sehr verehrte, in einer Flasche einkorken? Vielleicht war alles ganz anders und nicht Ole Luköie stahl ihm die Geschichten, sondern der kleine Mann, der ein Abkömmling der nordischen Kobolde ist, flüsterte sie dem Andersen beim Papierschneiden ein … Durch diese Mythenwelt wabert auch viel Böses.
Sehen Sie sich die Ausstellung an, lassen Sie sich verzaubern und irritieren. Und wenn Sie in Begleitung von Kindern durch die – im Übrigen hervorragend gestalteten – Säle des Hauses am Bremer Ostertor spazieren, werden Sie viele Fragen beantworten dürfen und sich wohl noch mehr erklären lassen müssen. Wie gesagt, Andersen blieb uns Erklärungsansätze schuldig. In das Bilderbuch, das er für die dreijährige (!) Christine Stampe anfertigte, klebte er den Scherenschnitt eines furchterregenden Mannes mit weit aufgerissenem Mund und riesigen Ohrringen an nicht minder großen Ohren ein. Die Collage ist beschriftet: „Der Schöpfer dieses Mannes ist HANS Christian Andersen. Der Freund der Kinder.“ Wie das zusammengeht, das wissen wohl nur die Kinder. Und wenn Sie dann wieder zuhause sind, nehmen Sie getrost einen Bogen Buntpapier, falten ihn ein- oder zweimal und lassen die Schere tanzen. Schnipp-schnapp! Sie werden bemerken, dass die Kleinen auch ganz ohne iPhone Fantasie entfalten können.
Abgerundet wird die Bremer Ausstellung mit modernen bildkünstlerischen Auseinandersetzungen: von Siebdrucken Andy Warhols aus den 1980er Jahren zu Scherenschnitten Andersens bis hin zur großformatigen Collage Kara Walkers „The Treasure Hunters“ (1997). Dass Andersen Anreger selbst für die zeitgenössische Rock- und Popmusikszene ist – beispielhaft hier Musikvideos der Pet Shop Boys oder Arbeiten Kate Bushs – hat auch mich überrascht.
Vor dem Verlassen der Ausstellung sollte man sich die Zeit nehmen für einen kleinen Film von Studenten der Hochschule für Künste Bremen mit dem hübschen Titel „Kröte, Teufel, Tod“. Der ist der beste Beleg dafür, dass die Geschöpfe des Poeten mit Feder und Schere immer noch äußerst lebendig sind.
Der von Anne Buschhoff und Detlef Stein verantwortete Katalog ist vorbildlich von Inhalt und Gestaltung her. Er hat das Zeug zu einem Standardwerk für alle Freunde des Freundes der Kinder aus Odense.
Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere, Kunsthalle Bremen, Mittwoch bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, dienstags bis 21 Uhr, an den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr bis 18 Uhr geöffnet – bis 24. Februar 2019; Katalog.
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