von Manfred Orlick
Längst ist es für mich ein festes Ritual. Wenn ich in der Stadt bin, dann ist eine Stippvisite in der Bücher-Telefonzelle auf dem Halleschen Marktplatz obligatorisch. Stets entdecke ich etwas Überraschendes, was andere Leser loswerden wollen. Beim letzten Besuch war es eine Ausgabe aus der DDR-Buchreihe „Bibliothek der Weltliteratur“, in der zwischen 1962 und 1991 vor allem klassische Werke aus dem 18. bis 20. Jahrhundert erschienen. Der noch tadellose Umschlag hatte meine Aufmerksamkeit geweckt: „Iwan Turgenjew – Väter Söhne“.
Die Lektüre des Romans lag wohl schon einige Jahrzehnte zurück. Schulzeit? Nein, sicher später. Egal. Bereits während der Heimfahrt mit der Straßenbahn vertiefte ich mich in den Romananfang, der sehr betulich, ja geradezu „in Filzpantoffeln“ daherkommt. Vor einem Gasthof an einer staubigen Chaussee wartet der Gutsbesitzer Nikolai Kirsanow mit seinem Kammerdiener Pjotr auf die Postkutsche. Mit ihr soll sein Sohn Arkadi kommen, der in Petersburg studiert. Während der Wartende so dasitzt, „die Beine unter die Bank gezogen, und den Blick versonnen schweifen lässt“, breitet Turgenjew zunächst auf drei Seiten die Familiengeschichte aus.
Trotz dieses behäbigen Beginns hätte ich fast das Aussteigen verpasst. Erst danach setzt die Handlung ein. Der Sohn ist nicht allein gekommen, er hat seinen Kommilitonen Jewgeni Basarow mitgebracht, um gemeinsam auf dem Landgut seines Vaters und seines Onkels Pawel die Semesterferien zu verbringen. Während die adligen Kirsanows auf eine lange Familiengeschichte zurückblicken können, ist Basarows familiäre Tradition eher bescheiden. Und selbst diese verhöhnt er. Ein radikaler Nihilist, der keine Autorität anerkennt und alles Bestehende zerstören will. Er versteht sich als ein Repräsentant einer zukünftigen Gesellschaft und als angehender Arzt glaubt er, menschliche Dummheit und Niedertracht heilen zu können.
Doch dann lässt Turgenjew den aufbrausenden und spöttischen Materialisten straucheln: Basarow verliebt sich in die junge verwitwete, aber unerreichbare Gutsbesitzerin Anna Odincova, was er zunächst als eine Entgleisung seiner Prinzipien betrachtet. Die Liebe lässt sich jedoch nicht nihilistisch wegdefinieren. Als seine Gefühle nicht erwidert werden, offenbaren sich seine Schwächen: Einsamkeit und übertriebenes Selbstvertrauen. Schließlich infiziert er sich beim unvorsichtigen Sezieren eines an Typhus gestorbenen Bauern. (Goethe ließ seinen jungen Werther noch durch einen Kopfschuss sterben.)
Im Gegensatz zu Puschkins Eugen Onegin, Lermontows Petschorin oder Gontscharows Oblomow schuf Turgenjew mit Basarow einen starken, aber widerspruchsvollen Vertreter der revolutionären Jugend der 1850er Jahre. In dieser literarischen Auseinandersetzung der Generationen ist Basarow die zentrale Figur und „überhaupt eine der meistdiskutierten Gestalten der russischen Literatur im neunzehnten Jahrhundert“ (Hanjo Kesting). Turgenjew hatte seinen Roman bewusst im Jahre 1859 angesiedelt, zwischen zwei fundamentalen historischen Ereignissen für Russland – Niederlage im Krimkrieg (1856) und Aufhebung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. (1861) – und damit genau zwischen Erniedrigung und Aufbruchstimmung des Landes.
Nach dem Erscheinen des Romans wurde dieser selbst zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen und Turgenjew musste Kritik von vielen Seiten einstecken. Besonders aus dem linken Lager gab es scharfe Angriffe; viele Vertreter eines neuen Russlands sahen in dem Werk eine „Verleumdung der jungen Generation“. Und tatsächlich wurden die damaligen russischen Revolutionäre mit dem Etikett „Nihilisten“ versehen, was Turgenjew jedoch nicht beabsichtig hatte. Aufgrund der vielen, teilweise groben Angriffe wollte er sogar den Schriftstellerberuf an den Nagel hängen. Auch im europäischen Ausland wurde der Roman viel gelesen und diskutiert.
Nachfolgende Generationen haben aber seine Zeitlosigkeit und Überzeugungskraft fasziniert und so gehört „Väter und Söhne“ nicht nur zu den populärsten Werken der russischen Literatur, sondern auch zu den Klassikern der Weltliteratur. Erinnert sei an die Äußerung von Thomas Mann: „Wenn ich auf eine einsame Insel verbannt würde und nur sechs Bücher mitnehmen dürfte, so würden zweifellos Turgenjews ,Väter und Söhne‘ dabei sein.“
Im Nachwort der 1975er Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag wurde ich schließlich auf den diesjährigen 200. Geburtstag von Iwan Turgenjew am 9. November aufmerksam. Zufall? Keine Bange – interessierte Leser müssen jetzt nicht die Bücher-Telefonzelle in ihrem Ort durchstöbern. Aus Anlass des Turgenjew-Jubiläums sind unter anderem zwei neue „Väter und Söhne“-Ausgaben erschienen – in einer neuen Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt und in einer Hörspielbearbeitung.
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018, 336 Seiten, 26,00 Euro.
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Hörspielbearbeitung von Hellmut von Cube, Hörverlag, München 2018, 17,95 Euro.
Schlagwörter: "Väter und Söhne", Iwan Turgenjew, Manfred Orlick