21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Risikosport – Sind die alle ein bisschen verrückt?

von Heerke Hummel

Wer hat sich angesichts der Waghalsigkeit von Extremsportlern nicht schon des Öfteren diese Frage gestellt? Wen’s interessiert, der möge Arno Müllers Buch „Risikosport. Suizid oder Lebenskunst?“ zur Hand nehmen. Es stellt die Ausbeute der Forschungsarbeit eines Sportwissenschaftlers mit der Absicht dar, „die Aspekte Sterben, Tod und Unsterblichkeit für die Sportwissenschaft aus philosophischer Sicht zu erschließen.“ Behandelt werden darin neben methodologischen Fragen (zu Beginn, wie es sich für eine wissenschaftliche Arbeit gehört) solche definitorischen und historischen Vorbemerkungen wie: Was Sport ist, Historische Aspekte zum Thema Todesrisiko im Sport, Was ist Risikosport? Sodann ein Abschnitt über Sport, Tod und Existenz mit ausgiebiger Analyse existenzphilosophischer Literatur, insbesondere der Äußerungen von Max Scheler, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Howard S. Slusher. Ferner ein Abschnitt Sport und Unsterblichkeit, ein weiterer über Sport und Sterbenlernen und schließlich über den Körper im Zeichen des Transhumanismus, wo es um Vorstellungen von der Abschaffung der Sterblichkeit geht.
Wenngleich es dem Autor vorrangig um den Sport und seine Betrachtung aus philosophischer Sicht geht, sind die Aussagen in ihrer Allgemeingültigkeit gewiss für einen großen, sich für solche Fragen interessierenden Leserkreis eine wahre Fundgrube für das eigene Mit- und Nachdenken. Denn es wird ein weites Literaturfeld ausgewertet (das Literaturverzeichnis umfasst nicht weniger als fünfzehn Seiten). In einem Satz fasst A. Müller seine Analyse dieses Materials so zusammen: „Sie ist eine Apologie des Risikosports – wohlgemerkt im Ergebnis, nicht im Hinblick auf die Intention!“ Soll heißen: Der Autor begann seine Arbeit vorbehaltlos und gelangte zu einer positiven Bewertung des Risikosports.
Und was macht seine Arbeit, sein Buch, nun im Einzelnen so spannend? Als Leser, der dem Extremsport zunächst kritisch gegenübersteht, ist man bei der Lektüre immer wieder überrascht von der Argumentation aus der Sicht der Athleten und ihrer beziehungsweise der Philosophie. Oft findet man sich in eigenen, vom dialektischen Materialismus, wie er in der DDR gelehrt wurde, geprägten Ansichten bestätigt; so beispielsweise, wenn Müller bei seinem historischen Ausflug zum Thema Todesrisiko im Sport Antiphon, den griechischen Philosophen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, mit den Worten zitiert: „Jede Wonne kommt erst nach großen Leiden“. Im Abschnitt „Sport, Tod und Existenz“ wird Bertolt Brecht zitiert: „Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat gesund zu sein.“ Das Entführungsopfer Jan-Philipp Reemtsma berichtet von seinen Gedanken, während er sich in Todesgefahr befand: Die Angst vor dem Tod sei nicht das Schlimmste gewesen. „Am schlimmsten war die Ungewissheit, wann und auf welche Weise der Tod eintreten wird“. Und von einem der bekanntesten Extremsportler, dem Bergsteiger Reinhold Messner, erfahren wir: „Grenzgang heißt Gang an der Grenze! Ganz klar.“ Und: „Wenn die Todesmöglichkeit nicht gegeben wäre, wäre es nicht so intensiv, was wir da oben machen.“ Dass dies kein suizidales Verhalten des Athleten darstellt, belegt A. Müller unter anderem mit der Aussage von R. Messner: „Ich spiele sehr viel mit dem Ende – nicht dass ich das Ende herbeiwünsche.“ Er bemühe sich immer, nicht umzukommen. Beim Thema „Sport und Suizid“ geht der Autor am Beispiel herausragender Athleten auf Fragen ein wie: Was ist Selbstmord? Oder: Kann man Doping als Selbstmord betrachten?
Einen wesentlichen Beitrag zum Verstehen was viele Athleten so todesmutig macht, vermag die Existenzphilosophie mit ihrem Gegenstand, der „Selbstwerdung“ im Sinne von Selbstverwirklichung des Menschen zu leisten. Die hier vermittelten Ansichten von Philosophen sowie Gefühle von Sportlern sind interessant zu lesen, auch wenn – vielleicht gerade weil – man als Anhänger des dialektischen Materialismus vom Autor vielleicht auch Betrachtungen zum Verhältnis von Materie und Bewusstsein ganz allgemein, in der Natur wie in der Gesellschaft, erwarten könnte. Hier im Buch mit seiner speziellen Thematik geht es natürlich immer um den einzelnen Sportler, sein Tun, Fühlen und Denken. Das Befassen mit dem einzelnen Individuum spielte im dialektischen Materialismus, wie er beispielsweise in der DDR gelehrt wurde, kaum eine Rolle; was wahrscheinlich mit den ganz anderen gesellschaftlichen Herausforderungen im damaligen Osten Deutschlands zusammenhing. Da musste die Philosophie gewissermaßen im Existenz- und Überlebenskampf des Staates mit seinem Widerpart im Westen gerade allgemeinen Fragen des Verhältnisses von Materie und Bewusstsein und im Besonderen die gesellschaftlichen Belange (auch auf Kosten des Befassens mit den Individuen) in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Sie verstand das Bewusstsein als eine grundsätzliche Eigenschaft der Materie, als deren Produkt und Funktion, die Welt zu erfassen und widerzuspiegeln. Und in dieser Wesensart sollte es auf die materielle Welt in ihrer steten Bewegung und Veränderung einwirken, um mit ihrem Wandel selbst einer Entwicklung zu unterliegen hin zum Denken des Menschen. Daraus war beispielsweise zu schlussfolgern, dass mit dem Tod das Leben und die Existenz eines Menschen in seiner Einheit von Materie und Bewusstsein beendet sind. Aber gerade ein solcher Standpunkt auf dem Boden des dialektischen Materialismus macht nun die Lektüre des Buches von Arno Müller so spannend, weil man als Leser immer wieder ganz besonders zur persönlichen Auseinandersetzung sowohl mit dem Inhalt des Buches als auch mit eigenen Überzeugungen herausgefordert ist.
Von der Kunst zu sterben führt der Autor den Leser schließlich zur Kunst zu leben und gibt damit sicherlich vielen eine Lebenshilfe. „Das ‚Denken an den Tod‘“, zitiert er Wilhelm Schmid, „ist, als äußerste Sorge, um die es im Leben geht, ein Charakteristikum der Philosophie seit ihren Anfängen.“ Diesen Gedanken immer wieder zu denken, sei eine Übung, „mit der das Selbst sich den Tod vor Augen hält, sich an ihn gewöhnt, Vertrautheit mit ihm gewinnt und ihm einen festen Ort in seinem Leben gibt. So verliert es die Furcht vor dem Tod und erreicht eine Gelassenheit im Umgang mit ihm, die ihm dereinst vielleicht erlaubt, ‚leicht sterben’ zu können“. Den Tod als Grenze zu akzeptieren, sich vertraut zu machen mit ihm, bedeute vor allem, „frei zu werden für das Leben und es auf diejenige Weise zu leben, die den Tod leicht machen kann. Der Gedanke an den Tod ist in einer reflektierten Lebenskunst gedacht als Ermutigung zum Leben, als Ansporn zum Auskosten der Fülle des Lebens, auch als Erleichterung in schwierigen Momenten des Lebens, in denen das Selbst sich sagen kann, dass alles, was zu schwer erscheint, dereinst zurückgelassen werden kann.“

Arno Müller: Risikosport. Suizid oder Lebenskunst? merus verlag, Hamburg 2008, 180 Seiten, 19,80 Euro.