21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Humboldts Amerikareise

von Manfred Orlick

1799 brach Alexander von Humboldt nach monatelanger Vorbereitung als Neunundzwanzigjähriger vom spanischen La Coruña zu seiner Amerika-Expedition auf. Nach kurzem Zwischenaufenthalt in Teneriffa landete das Schiff nach sechs Wochen schließlich im heutigen Venezuela, wo Humboldt mit der Erforschung des oberen Orinoko begann. Später ging es weiter in das heutige Kolumbien und nach Peru. Hier erblickte er zum ersten Mal den Pazifik. Nach einem mehr als einjährigen Aufenthalt in Mexiko, dem damaligen Vizekönigreich Neu-Spanien, besuchte er am Ende der Reise noch Nordamerika. Mit vierzig Kisten voll wissenschaftlicher Ausbeute betrat Humboldt Anfang August 1804 in Bordeaux wieder europäischen Boden.
Wären die paar Kisten mit Pflanzen- und Tierpräparaten der einzige Ertrag seiner Amerika-Reise gewesen, wäre Alexander von Humboldt heute sicher eine Fußnote der Wissenschaftsgeschichte. Es war jedoch seine empirische Methodik des genauen Messens und Dokumentierens, die seine Expedition zum Vorbild aller nachfolgenden großen wissenschaftlichen Reisen des 19. Jahrhunderts machte.
Darüber hinaus hatte der Naturforscher während seiner Reise Tausende von Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster Kulturen, Milieus, Weltgegenden und Lebenssphären gehabt. Die eindrucksvollsten und denkwürdigsten Begegnungen hat Humboldt in seinen „Amerikanischen Reisebüchern“ festgehalten, die immerhin mehr als viertausendfünfhundert Seiten umfassten.
Nun liegt im Manesse Verlag eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen vor, die sich weitgehend auf die Beschreibungen der menschlichen Kontakte beschränkt. So berichtet Humboldt unter anderem von einem Mönch in einem indianischen Dorf, der neugierig auf alle Kriegsbegebenheiten in Europa war, oder von den Berghelfern, die ihn beim Aufstieg auf den Chimborazo begleiteten. Bei seinen Fußreisen lenkte Humboldt sein Hauptaugenmerk auf das Landvolk, wobei er sich von stinkenden Lumpen oder schmutzigen Hütten nicht abhalten ließ. Neben Indianern und Plantagensklaven kam Humboldt auch mit Handwerkern, Geistlichen, Offizieren oder Prostituierten zusammen. So reihen sich auf den über 400 Seiten Porträt an Porträt. Jede Begegnung besitzt ihren eigenen Reiz. Die Auswahl ist in 120 „Text-Inseln“ unterteilt, die von stichwortartigen Notizen bis zur ausführlichen Abhandlung reichen. Die Texte kann man kontinuierlich (chronologisch) lesen oder sich anhand eines aufgelisteten Leseparcours die unterschiedlichsten Themenbereiche erschließen.
Da der Verbleib der „Reisetagebücher“ der nordamerikanischen Schlussetappe bis heute unbekannt ist, musste sich die Manesse-Auswahl notgedrungen auf die amerikanischen Tropen beschränken. Anhand einer mehrseitigen Zeittafel kann man detailliert den genauen Reiseweg Humboldts verfolgen.
Seit November 2013 befinden sich die neun in Schweinsleder gebundenen Bände von Humboldts „Reisetagebüchern“ in der Staatsbibliothek zu Berlin, die dort auch in hochauflösenden Aufnahmen digital gespeichert wurden. Im Anhang erfährt der Leser, wie es zu dieser „Jahrhunderterwerbung“ kam.
Die Neuerscheinung ist der publizistische Auftakt zum 250. Geburtstag von Alexander Humboldt im Mai des nächsten Jahres. Im Audiobuch Verlag ist zudem eine ungekürzte Lesung (von Frank Arnold) erschienen, die in 13 Stunden die Humboldt-Auswahl zu Gehör bringt.

Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen, Manesse Verlag, München 2018, 416 Seiten, 45,00 Euro.
Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen, Ungekürzte Lesung, Audiobuch Verlag, Freiburg 2018, 3 mp3-CDs, 39,95 Euro.